Der spontane Auftritt des Vizekanzlers bei einem Gespräch unter Abgeordneten ist für seine Kritiker ein weiterer Beweis seiner Unberechenbarkeit. Der Koalitionspartner tobt. Wenn Gabriel Anstand im Leibe hätte, so CSU-General Scheuer, müsste er „den Dienst quittieren.“

Berlin - Wieder einmal hat es Sigmar Gabriel geschafft, alle zu überraschen. Sicher, er hatte das Treffen der rund 100 Abgeordneten von SPD, Grünen und Linken am Dienstagabend zur Vorbereitung eines Regierungsbündnisses intern gutgeheißen. Aber mit Grünen und Linken war eigentlich zunächst verabredet, dass Vizefraktionschefs, die Bundesgeschäftsführer von Linken und Grünen sowie die SPD-Generalsekretärin die ranghöchsten Vertreter sein sollten. Zuviel Wirbel wollte man nun auch wieder nicht, zumal die Fans eines Linksbündnisses in den eigenen Reihen noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen.

 

Gabriel, den Parteichef und Vizekanzler der großen Koalition, hatte also niemand auf dem Zettel. Diebisch freute er sich deshalb über seinen Coup, als er bei seinem Überraschungsauftritt in die verdutzten Gesichter vor Raum 1302 im Jakob-Kaiser-Haus sah. Ihn habe der Einführungsvortrag des Soziologen Oskar Negt interessiert, hieß es später, nichts weiter. Nach einer halben Stunde verschwand Gabriel, ohne die Diskussion abzuwarten. Aber die Zeichen waren da schon gesendet.

Ein Signal an die Union

Das Signal an die Union lautete: wir können auch anders. Das Signal an die Anwesenden war: Rot-Rot-Grün, intern mit dem Kürzel R2G versehen, bekommt ihr nur mit mir. Nicht mit Martin Schulz, der aktuell als Kanzlerkandidat hoch gehandelt wird und erst recht nicht mit Olaf Scholz, die beide bisher eher allergisch auf solche Gedankenspiele reagierten. Ausgerechnet in Reihen der SPD-Linken, der Gabriel programmatisch in den vergangenen Monaten recht nahe kam, wandten sich zuletzt einige schaudernd von Gabriel als Kanzlerkandidat ab, weil dessen Glaubwürdigkeit endgültig dahin sei. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, Freund und schärfster Konkurrent zugleich, durfte deshalb auf einem Strategietreffen der Linken vor wenigen Tagen seine Sicht der Dinge darlegen. Gabriel hat das nun auf seine Weise gekontert.

Impulsiv und bauchgesteuert

Es war abzusehen, dass der Besuch nicht nur auf Begeisterung stieß, denn abermals arbeitete Gabriel hart an seinem Image, impulsiv und bauchgesteuert zu sein. Jene bei Rot-Rot-Grün, die eine Koalition für möglich halten, gehen aber davon aus, dass in einem derart komplizierten Gebilde wie einer solchen Dreierkoalition Stabilität und Berechenbarkeit an der Spitze eine entscheidende Bedingung fürs Gelingen wäre. Gabriel trauen dies viele in allen drei Lagern nicht zu und so sind giftige Untertöne nach dem Gabriel-Auftritt nicht verwunderlich. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, eigentlich einer, der gut mit Gabriel kann, wurde fast schon ein wenig gehässig, weil er den Besuch des SPD-Chefs in die Nähe der Gabriel-Visite einer Veranstaltung mit Pegida-Anhängern rückte. Damals, Anfang 2015, hatte sich Gabriel als Reaktion auf scharfe Kritik von links mit dem Argument gerechtfertigt, dass er ja nur als „Privatmann“ aufgetreten sei. Bartsch sagte nun: „Er besucht ja hin und wieder spontan und privat Veranstaltungen. Das war wohl auch diesmal der Fall.“

Gemeinsame Ziele

Wegen des Gabriel-Auftritts ging unter, dass die Veranstalter selbst ein positives Fazit zogen. Man sei sich in vielen Feldern näher gekommen, hieß es. So sei in der Gesundheitspolitik die Schaffung einer Bürgerversicherung, in der die privaten Versicherungen aufgehen sollen, ein gemeinsames Ziel. „Die Gemeinsamkeiten sind deutlich größer als das Trennende“, sagte die Linke Vizefraktionschefin Caren Lay. Das war aber auch nicht anders zu erwarten, denn die Vetomächte der Parteien, etwa die Linke Sahra Wagenknecht, waren gar nicht anwesend. Und dass man sich in den bisher unüberbrückbaren Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik näher gekommen wäre, behauptete nach dem Treffen auch keiner. Es überzeugten sich ohnehin jene selbst von Rot-Rot-Grün, die ohnehin schon in dieser Richtung offen sind. Immerhin scheint die Klammer, gemeinsam gegen rechtspopulistische Bewegungen vorgehen zu wollen, so stark zu sein, dass sie auch Skeptiker dazu bewegt, an weiteren Treffen teilzunehmen. Am 11. Dezember soll es ein Folgetreffen geben. Dann sollen Arbeitsgruppen gebildet werden. Ziel ist eine rot-rot-grüne Regierung 2017.

Stabilitätsrisiko

Prompt warnte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer vor einer „Linksfront“. Wenn Gabriel „Anstand“ hätte, müsste er jetzt „den Dienst quittieren“. CDU-Kollege Peter Tauber sagte, Rot-Rot-Grün wäre ein „Stabilitätsrisiko für Europa und die Welt“. Der Funke-Mediengruppe sagte Tauber: „Die Linke ist eine rote AfD, sie will raus aus dem Euro und bezeichnet die Nato als Kriegstreiber.“ Der SPD warf Tauber Orientierungslosigkeit vor. Die Grüne verschonte er. Kein Wunder. Die braucht er ja nach der Wahl 2017 vielleicht noch selbst – für Schwarz-Grün.

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.rot-rot-gruen-im-bund-gabriels-rechnung- ohne-zwei-wirte.e87b41aa-a75d-4d6f-b6cf-133d084173ee.html