Handwerk in der Krise Warum der goldene Boden schwankt
Im Handwerk nehmen die Sorgen zu. Metzger und Bäcker leiden besonders unter den hohen Energiepreisen. Doch es gibt auch noch eine ganze Reihe anderer Probleme.
Im Handwerk nehmen die Sorgen zu. Metzger und Bäcker leiden besonders unter den hohen Energiepreisen. Doch es gibt auch noch eine ganze Reihe anderer Probleme.
Auf der Alb ist es immer einen Kittel kälter. Doch jetzt weht Jochen Rieck ein besonders rauer Wind ins Gesicht. „Seit 45 Jahren habe ich keine solchen Probleme erlebt wie jetzt gerade“, klagt der Metzger aus Römerstein. Was ihn umtreibt wie noch nie, sind die massiv gestiegenen Energiekosten. Der Mann im weiß-blauen Metzgerkittel braucht Strom für seine Maschinen, zum Heizen und Kühlen der Lagerräume, in denen Fleisch und Würste hängen, in denen frische Maultaschen und Fleischsalat aufbewahrt werden. Strom braucht er auch zum Schlachten. Rieck nämlich macht dies nicht im Schlachthaus, sondern in seinem eigenen Produktionsbetrieb: „So kann ich den Bauern sagen, wie sie die Tiere mästen sollen, dann wird das Fleisch besser.“ In seiner Schlachterei musste der Obermeister der Fleischer-Innung Reutlingen im August letzten Jahres für 12 700 Kilowattstunden Strom 3600 Euro zahlen, ein Jahr später lag seine Rechnung für nur noch 8200 Kilowattstunden bei 6200 Euro. Dass er weniger Strom brauchte, hat er seiner neuen Photovoltaikanlage zu verdanken. Doch Rieck hat auch verschiedene Filialen, in denen Wurst und Fleisch gekühlt werden müssen. Alles in allem sind seine Stromkosten in einem Jahr von 10 000 Euro auf 20 000 Euro gestiegen.
„Die Sorgen im Handwerk werden täglich größer“, sagt Rainer Reichhold, der Präsident des Baden-Württembergischen Handwerkstags, „die steigenden Energiekosten setzen die Betriebe zunehmend unter Druck.“ 90 Prozent der Betriebe berichten nach der jüngsten Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) über einen enormen Anstieg der Energiekosten seit Jahresbeginn. Besonders betroffen: Metallverarbeiter, Metzger und Bäcker.
So wie Martin Bayer aus dem Reutlinger Ortsteil Mittelstadt. „Noch nie hatte ich Probleme mit der Energie“, erzählt der Bäckermeister. Doch nun hat es den Betrieb mit seinen 30 Beschäftigten voll erwischt: „Ich habe jetzt eine Steigerung der Stromkosten um 600 Prozent.“ Sein Betrieb, der Platzhirsch in Mittelstadt, braucht die teure Energie zum Backen, aber auch für die Teigknetmaschine oder zum Kühlen von Waren und Rohstoffen wie Butter.
„Ich bin seit 2008 im Betrieb, aber eine derart schlimme Zeit habe ich noch nie erlebt“, sagt Bayers Kollege Joerg Schmid aus Gomaringen. Für seinen Betrieb mit 150 Beschäftigten und zahlreichen Filialen hat sich der Strom, „den wir täglich auf dem Spotmarkt kaufen müssen, gegenüber dem Stand vor einem Jahr verzehnfacht“. Beim Gas für die Backöfen sieht es dank einem noch bis Ende 2023 laufenden Vertrag etwas besser aus, „aber ich befürchte, dass das Gas bei einem neuen Vertrag zwölfmal so teuer werden könnte“. Schmid hat den Preis für eine Brezel von 80 auf 90 Cent erhöht. Die Not der Bäcker sieht auch Mattias Bauer von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, die dem Handwerk sonst auch gerne auf die Finger schaut: „Die können ihre höheren Kosten nicht einfach an die Kunden weitergeben“, so die Diagnose von Bauer, „die kämpfen mit den Discountern.“ Für Schmid jedenfalls ist eines sicher: „ Eine Weile kann man das aussitzen und von den Reserven leben.“ Aber eben nur eine Weile.
Die Spruchweisheit vom Handwerk, das „goldenen Boden“ habe, war ursprünglich kein Hinweis darauf, dass sich dort gutes Geld verdienen lasse, sondern die bildhafte Umschreibung einer Notlage: „Handwerk hat goldenen Boden, sprach der arme Weber, da schien ihm die Sonne in den leeren Brotbeutel“ – das sah zwar glänzend aus, machte aber nicht satt. So weit ist es mit der ehemaligen Zunft der Meister und Gesellen zwar noch nicht gekommen, doch die Sorgen wachsen. Jeder vierte Betrieb rechnet nach der jüngsten Umfrage des Baden-Württembergischen Handwerkstags mit schlechteren Geschäften. Im Nahrungsmittelhandwerk ist die Zahl der Pessimisten mit mehr als 40 Prozent besonders hoch.
Das größte Problem für das Handwerk sind nach Meinung von Reichhold zwar die explosionsartig gestiegenen Energiepreise. Dass Bund und Land nun helfen wollen, wertet er als positives Signal. Doch es gibt eben auch andere Schwierigkeiten: gestiegene Materialpreise oder gerissene Lieferketten, etwa bei Elektronikkomponenten. „Die Sorgen und Krisen kamen leider nicht hintereinander, sondern sie überlappen sich“, sagt der oberste Handwerker im Südwesten.
Jochen Hägele winkt vom Dach einer Garage in Freiberg am Neckar. Auch er hat mit Energie zu tun. Doch die massiv gestiegenen Preise pfuschen dem geschäftsführenden Gesellschafter von Wenzelburger in Filderstadt mit seinen 40 Beschäftigten kaum ins Geschäft, im Gegenteil. „Es ist zwar bewölkt, aber wir haben Licht. Die Photovoltaikanlage könnte also Strom liefern“, sagt Hägele. Auf die Garage, aber auch auf das Dach des neuen Hauses montiert sein Unternehmen solche Sonnenlichtsammler, zusammen haben diese eine Fläche von 100 Quadratmetern. Damit nicht genug: Für das Haus und den Pool daneben werden zwei Luftwärmepumpen installiert. „Im Februar soll alles fertig sein“, sagt der Firmenchef aus Filderstadt. Dabei hat er Glück: Da alles Notwendige schon länger bestellt ist, muss er offenbar auch keine Sorge haben, dass sich seine Arbeiten verzögern. Im Rohbau kann er auch zeigen, was alles schon eingebaut ist.
Anders sieht es aber bei künftigen Arbeiten aus: „Die Zukunft ist schlecht planbar“, meint Hägele, „auch weil viele Komponenten aus dem Ausland kommen.“ Auch wann eine jetzt bestellte Wärmepumpe geliefert wird, ist kaum vorhersehbar, die Wartelisten sind lang. Und auch wenn die Dringlichkeit des Klimaschutzes und die höheren Preise für konventionelle Energien das Interesse etwa an Photovoltaikanlagen wachsen lassen – bei Aufträgen spürt der Filderstädter durchaus eine gewisse Zurückhaltung: „Ich habe das Gefühl, dass die Leute abwarten und schauen, wie sie über den Winter kommen.“ Firmen, die Photovoltaikanlagen auf Dächern installieren, stünden auf der Sonnenseite, findet auch Handwerkspräsident Reichhold: „Nach wie vor gibt es eine große Klientel von Eigentümern, die in ihr Haus investieren wollen.“ Probleme für solche Betriebe sind eher gestiegene Materialkosten – Hägele spricht von bis zu 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr oder eben gerissene Lieferketten: „Bei Wärmepumpen, Energiespeichern und Wechselrichtern sind Lieferzeiten von 30 bis 50 Wochen die Regel“, so die Erfahrung von Reichhold.
Das hemmt löbliches Tun: „Besonders das Bau- und Ausbaugewerbe leistet einen großen Beitrag zum Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft“, meint Markus Glasl, Geschäftsführer des unter dem Dach des Deutschen Handwerksinstituts angesiedelten Ludwig-Fröhler-Instituts in München. Einen Beitrag zum Klimaschutz aber sollte das Handwerk nach Ansicht von Experten nicht nur bei der Arbeit für die Kunden leisten, sondern auch im eigenen Betrieb: „Das Handwerk sollte genau schauen, ob seine Materialien klimaverträglich sind“, rät Kilian Bizer, Professor für Wirtschaftspolitik und Mittelstandsforschung an der Universität Göttingen, „eine Dämmung auf Holzbasis ist energetisch besser als eine mineralische Dämmung, weil diese in der Herstellung viel Energie benötigt.“
Gerade der Beitrag zum Klimaschutz könnte dem Handwerk auch helfen, junge Menschen für die Branche zu gewinnen. Denn trotz aller Probleme in wichtigen Bereichen treibt auch der Mangel an Fachkräften die Betriebe um. Selbst Bäcker und Metzger suchen weitere Mitarbeiter – zumindest bis jetzt noch. Insgesamt sind nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks schätzungsweise 250 000 Stellen unbesetzt, in Baden-Württemberg fehlen dem Handwerk – auch dies ist eine Schätzung – 60 000 Fachkräfte. „Auch Gehaltserhöhungen dürfen bei der Suche nach Fachkräften kein Tabu sein“, sagt Glasl. Damit liegt er auf einer Linie mit Hägele, der meint, „das Handwerk müsste mehr bezahlen. Unsere Beschäftigten dürfen nicht schlechtergestellt sein als in der Industrie.“
Doch es geht nicht nur ums Geld. Das Handwerk, so meint Bizer, könne sich durchaus etwas einfallen lassen, um sich als interessanter Wirtschaftszweig zu präsentieren: „Der Dachdecker könnte zu einem Mitarbeiter sagen: ‚Du kannst das Dach mit einer Drohne vermessen.‘ Das wäre für junge Menschen technisch sicherlich reizvoll.“ Und Reichhold fügt hinzu : „Der Knackpunkt ist die Anpassung an moderne Aufgaben.“
Das war schon immer eine Herausforderung. Bürstenbinder oder Korbmacher, früher wichtige Handwerke, führen heute eher ein Exotendasein. Anderes aber kam hinzu: Mit der Industrialisierung kamen die Elektriker, der Ausbau der Wasserversorgung schuf für Schlosser und Klempner neue Arbeitsmöglichkeiten. Und Reichhold erinnert sich auch an die Anfänge seiner eigenen Ausbildung: „Damals gab es noch keine Satelliten und noch kein Datennetz.“ Inzwischen aber ist aus dem Elektroinstallateur beispielsweise der Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik geworden, der auch für die Steuerung von allerhand Anlagen im Haus sorgen kann. Der Wandel geht weiter: Gibt es immer mehr Elektroautos, brauchen die Werkstätten immer mehr Kraftfahrzeugmechatroniker. Spezialisten für Vergaser dagegen werden das Schicksal anderer praktisch ausgestorbener Berufe teilen.
Gesucht werden indes nicht nur Fachkräfte, sondern auch junge Menschen, die bereit sind, einen Betrieb zu übernehmen. Das Risiko ist bei einem solchen Sprung ins kalte Wasser natürlich höher als bei einer Anstellung – im eigenen Unternehmen aber wird auch mehr verdient. „Die Handwerker starten früh in den Beruf und verdienen Geld. Über die Lebensarbeitszeit ist das oft mehr als bei einem durchschnittlichen Akademiker“, sagt Bizer. „Vor allem in Berufen, die mit dem Bau oder Ausbau zu tun haben, konnten selbstständige Handwerker in letzten Jahrzehnt sehr hohe Gewinne erzielen, die zumeist deutlich über dem Einkommen von angestellten Akademikern lagen“, berichtet Glasl. Bundesweit werden in den nächsten fünf Jahren Nachfolgerinnen und Nachfolger für 125 000 Betriebe gesucht, im Südwesten für 20 000 Betriebe. Eine Übernahme kann besser sein als eine Neugründung: „Ein solcher Betrieb ist etabliert, er hat Mitarbeiter und Kunden“, sagt Reichhold. „Das Handwerk hat seinen goldenen Boden nicht verloren“, meint Glasl. Aber auch was Bizer sagt, gilt eben: „Den goldenen Boden gibt es nicht für alle.“
Gibt es ihn für Bäcker und Metzger? Metzger Rieck aus Römerstein glaubt ebenso daran wie Bäcker Bayer aus Mittelstadt oder sein Kollege Schmid aus Gomaringen. Der Metzger von der Alb würde „nochmals neu anfangen, wenn ich 30 Jahre alt wäre und die Unterstützung der Familie hätte“. Die Bäcker Bayer und Schmid allerdings würden manches anders machen, wenn sie nochmals neu anfingen. Bayer, der ebenso wie Schmid auch schon von Betriebsaufgaben gehört hat, würde sich neu organisieren: „Mit weniger Personal und mit einer Konzentration auf Brot und Wecken.“ Und in die Backstube würde er sich einen Ofen stellen, den er auch mit Holz heizen kann. „Wir überlegen uns, das Sortiment zu verkleinern. Dann könnten wir effektiver arbeiten“, sagt auch Schmid.
Bayers Mitarbeiterin Tina Reicherter hat schon einen Weltmeistertitel als Bäckerin gewonnen, der Beruf macht ihr sichtlich Spaß. Noch vor einem halben Jahr war es ihr Traum, irgendwann mit einem kleinen Laden mit einem kleinen Café ihre eigene Chefin zu werden. Heute aber hat sie anderes vor – auch wegen der hohen Energiepreise: „Gerne würde ich Lehrerin werden und junge Leute im Bäckerhandwerk unterrichten“, sagt die 22-Jährige, „das ist weniger riskant und mein Plan A.“ Einen Vorteil hätte dies zudem: „Man bleibt in der Branche“, sagt Reicherter. Auch Schmid warnt: „Heute kann man keinem jungen Meister empfehlen, eine Bäckerei aufzumachen.“ So bleibt nur ein eher bitteres Resümee: Für viele Handwerker schwankt der sprichwörtliche goldene Boden.