Wird der türkische Präsident den gescheiterten Putsch nutzen, um dem kemalistischen System endgültig den Garaus zu machen? Wir haben mit Elmar Brok, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, über die Folgen für die Türkei gesprochen.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart/Ankara - Nach dem gescheiterten Umsturzversuch in der Türkei haben erste Säuberungsmaßnahmen etwa in der Richterschaft begonnen. Elmar Brok erwartet einen weiteren Umbau des türkischen Staates. Auch die Streitkräfte könnten noch weiter auf Präsident Erdogan zugeschnitten werden.

 
Herr Brok, welche Folgen wird der gescheiterte Putsch für die Türkei haben?
Präsident Erdogan wird die Situation erstens nutzen, um die Streitkräfte noch stärker auf sich auszurichten und die ihm nicht zugeneigten Kräfte zu entfernen. Zum zweiten kann es sein, dass er den Putsch als Alibi nimmt, den Druck zu erhöhen und den Staat zu einem Präsidialsystem nach seinen Wünschen umzubauen.
Erdogan hat den Putschversuch als „Segen Gottes“ bezeichnet. So ganz ungelegen scheint ihm der Aufstand der Militärs nicht zu kommen.
Die Streitkräfte waren die tragenden Kräfte des Systems, das der Staatsgründer Kemal Atatürk errichtet hat. Es mag sein, dass wir jetzt das endgültige Ende dieses kemalistischen Systems erleben. Die letzten Wälle des Säkularismus werden abgeräumt.
Nach Erdogans Darstellung steckte hinter dem Putsch der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen. Halten Sie diesen Vorwurf für berechtigt?
Es ist nicht völlig auszuschließen, aber ich glaube das nicht. Als es um Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan und sein Umfeld ging wie zu vielen anderen Gelegenheiten - immer wieder wird Gülen von Erdogan zum großen Gegner erklärt. Es ist immer dasselbe Muster.
Welche Auswirkungen haben die dramatischen Ereignisse dieser Tage auf das Verhältnis Brüssel-Ankara? Die Türkei war schon vorher ein schwieriger, unberechenbarer Partner für die Europäische Union.
Die EU hat den Putsch verurteilt. Wir müssen Erdogan jetzt klar machen, dass wir erwarten, dass er sich nun an die Verfassung hält. Er darf den Verführungen, von denen ich eben gesprochen habe, nicht nachgeben und die Entwicklung zu einem autoritären Staat nicht vorantreiben. Das müssen wir von ihm fordern. Inwieweit das erfolgreich sein wird, weiß ich nicht. Aber wir müssen es versuchen.
Die EU hat im Gegenzug zu Visaerleichterungen für türkische Bürger von Erdogan die Lockerung der sehr umfassenden Anti-Terror-Gesetze verlangt. Hat dieser Deal jetzt, angesichts der gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Türkei, überhaupt noch eine Chance?
Das weiß ich nicht. Das hängt davon ab, ob Erdogan zu normalen, verfassungsmäßigen Zuständen zurückkehrt. Hier geht es zudem um viele andere Interessen: Um Flüchtlinge, die auf unsere Unterstützung hoffen. Um den Kampf gegen Menschenschmuggler, die die Leute im Mittelmeer in den Tod führen. Um die Absenkung der Migrationszahlen in der EU. Hier geht es um einen Abwägungsprozess - und eine Lösung gibt es nur mit der Türkei. Die Aussichten der Türkei, Mitglied der Europäischen Union zu werden, sind zunehmend schlechter geworden durch die innere Entwicklung der Türkei. Das sollten wir aber nicht in einen Topf werfen mit der Flüchtlingsfrage.
In der Putschnacht gab es in mehreren deutschen Städten Demonstrationen von Türken. Befürchten Sie, dass jetzt noch mehr als bisher innertürkische Konflikte auf deutschen Straßen ausgetragen werden?
Ich hoffe, dass es nicht passiert. Es muss unseren türkischen und türkischstämmigen Mitbürgern klar werden, dass Deutschland nicht der Austragungsort für Auseinandersetzungen in anderen Ländern ist. Das gilt für die Türken, aber natürlich auch für andere – zum Beispiel die Kurden. Diese Mitbürger müssen sich entscheiden, ob sie in Deutschland oder in der Türkei leben.