Der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl setzt sich für das achtjährige Gymnasium ein. Die Realschule könne eine Alternative zur Gemeinschaftsschule werden, sagt er im Interview.

Die Schullandschaft ist im Umbruch, die grün-rote Landesregierung strebt ein Zweisäulenmodell an, das noch immer vage ist. Der Wissenschaftler Torsten Bohl verlangt ein klares Bekenntnis der Politik zum achtjährigen Gymnasium und eine gute Perspektive für die Realschule.
Herr Bohl, wie sollten sich die Schularten in Zukunft positionieren?
Man muss das Schulsystem so aufstellen, dass die Schulart neben dem Gymnasium nicht Gefahr läuft, abgewählt zu werden. Diese Gefahr ist sehr groß, wenn es neunjährige Gymnasien gibt. Der Knackpunkt für Baden-Württemberg ist, zu klären, wie man die Schulart neben dem Gymnasium attraktiver machen kann.
Was schlagen Sie vor?
Man sollte ein achtjähriges Gymnasium haben mit dem klaren bildungstheoretischen Auftrag beispielsweise in einem wissenschaftspropädeutischen Sinne, mit einem klaren fachspezifischen Profil und dem Anspruch, das in zwölf Jahren zu schaffen. Bei G9 dagegen kann man sich manchmal schon fragen, ist das noch ein Gymnasium oder schon eine Volksschule mit gymnasialem Anspruch, allein aufgrund der extrem hohen Schülerzahlen. Wir brauchen zudem unbedingt und zügig Modellversuche zum Abitur im eigenen Takt als eine sehr flexible und interessante gymnasiale Variante.
Aber G9 scheint beliebt zu sein. Sieht das die Wissenschaft auch so?
Wenn man die Eltern fragt, wünschen sie sich größtenteils G9. Sie glauben, dass bei G9 mehr Schüler die Chance haben, zum Abitur zu kommen, auch wenn sie eine mittlere Bildungsempfehlung haben. Studien zeigen deutlich, dass bei G9 mehr Schüler ohne Gymnasialempfehlung das Gymnasium besuchen.
Wie geht es diesen Schülern auf dem Gymnasium? Weckt G9 falsche Hoffnungen?
Es gibt wenige Studien, die darüber Auskunft geben. Sie besagen, dass in G8 das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Schüler höher sind als in G9, das ist möglicherweise überraschend.
Woran liegt das?
Im achtjährigen Gymnasium sind weniger Schüler mit Realschulempfehlung. Damit gibt es auch weniger Schüler, die mit dem Gymnasialniveau zu kämpfen haben. Es ist denkbar, dass deshalb die Zufriedenheit der Schüler größer ist. Dagegen sind auf dem neunjährigen Gymnasium mehr Schüler, die Mühe haben, den gymnasialen Standards zu entsprechen. Dahinter steht letztlich auch die Anfrage an die Fördermöglichkeiten am Gymnasium.
Das Wohlbefinden ist das eine, die Erfolgsaussichten das andere. Schaffen in G9 mehr Schüler das Abitur als in G8?
Darüber geben die Studien keine Auskunft.
Sie sprechen sich klar für G8 aus. Wo gibt es Verbesserungsbedarf?
Das Nachmittagsangebot müsste besser mit den regionalen und lokalen Angeboten der Vereine abgestimmt werden. Das heißt, man muss deutlicher über ein gutes und rhythmisiertes Ganztagsangebot am Gymnasium nachdenken. Da gibt es Optimierungspotenzial.
Was soll neben dem Gymnasium in der zweiten Säule stehen?
Eine Schulart, die in den Klassen fünf bis zehn ebenfalls ein gymnasiales Angebot hat. Man sollte von vorneherein klar machen, dass jemand, der nicht nach der vierten Klasse auf das Gymnasium geht, die Möglichkeit hat, auf der zweiten Schulart ein gymnasiales Angebot zu bekommen.
Gibt es dann zwei Definitionen von gymnasialer Bildung?
Von der Zielsetzung her nicht, aber die Schüler in der zweiten Säule hätten einfach ein Jahr mehr Zeit. Sie würden auch von einer anderen Pädagogik und Didaktik leben, die tendenziell auf mehr individuelle Unterstützung hinauslaufen muss.
Wäre der Weg über die zweite Säule ein gymnasialer Weg zweiter Klasse?
Den Vorwurf kann man nicht theoretisch ausräumen. Den muss man durch eine funktionierende Praxis widerlegen. Fraglos ist das ein Riesenanspruch an die zweite Schulart.
Um die zweite Säule gibt es heftige Debatten. Was könnte zur Entspannung beitragen?
Das große ungelöste Problem in Baden-Württemberg ist derzeit, wie verhält sich die Realschule zur Gemeinschaftsschule. Die Realschule ist derzeit die Schulart, die die unklarste Perspektive hat. Das Schulsystem in Baden-Württemberg wird so lange nicht stabil aufgestellt sein, so lange man nicht für und mit der Realschule eine gute Perspektive entwickelt. Das muss jedem klar sein. Derzeit wollen viel zu wenig Realschulen Gemeinschaftsschulen werden. Fast alle Gemeinschaftsschulen stammen aus Hauptschulen. Wenn man sich jetzt nicht etwas einfallen lässt, erhält man eine neue Dreigliedrigkeit. Das ist kein Modell, das man propagieren kann. Im Moment sind die Schnittmengen der Schüler viel zu unklar. Es entsteht permanent Konkurrenz zwischen Gymnasium, Realschule und Gemeinschaftsschule vor allem um die Schüler mit einer mittleren und hohen Leistungsstärke.
Dann ist die entscheidende Frage, wie sollte sich die Realschule aufstellen?
Der einzige Weg, den ich derzeit sehe in eine vernünftige Zweigliedrigkeit zu kommen, wäre, die zweite Schulart nach Merkmalen aufzustellen. Einige sind zwingend. Bei anderen kann sie flexibel bleiben.
Was sind zwingende Merkmale?
Die zweite Schulart muss alle Standards anbieten, sie braucht von der Klasse fünf bis zehn auch gymnasiale Angebote und Lehrer, die eine gymnasiale Ausbildung haben. Und sie braucht eine Konzeption für heterogene Lerngruppen mindestens für die Klassen fünf und sechs, eventuell auch für die Klasse sieben. So könnte man die Aufteilung in die späteren Abschlüsse möglichst spät vollziehen.
Wo sollte die Realschule flexibel sein?
Individualisierung lässt sich didaktisch flexibler umsetzen, es müssen nicht dieselben Unterrichtskonzepte sein wie an Gemeinschaftsschulen. Die Schulen brauchen mehr pädagogisch-didaktische Freiheit im Umgang mit Heterogenität. Dann schlage ich vor, es ab Klasse sieben oder acht der Einzelschule zu überlassen, ob sie Kurssysteme in den Kernfächern anbietet oder ob sie bis Klasse neun beziehungsweise zehn mit heterogenen Lerngruppen arbeiten will. Das wäre für sehr viele Realschulen sehr wichtig. Man sollte sagen, ab Klasse sieben ungefähr entscheidet die einzelne Schule, wie sie weitermachen möchte. Man kann keine Schule zwingen, mit heterogenen Lerngruppen umzugehen. Das funktioniert nicht. Über die Kombination von vorgeschriebenen Merkmalen und mehr Flexibilität könnte man eine Annäherung zwischen Gemeinschaftsschulen und Realschulen erreichen, die der Realschule wieder eine Perspektive bietet. Gleichzeitig blieben nach wie vor Wahlmöglichkeiten.
Würden nach Ihrem Modell auch die Realschulen gymnasiale Standards anbieten?
Ja, absolut. Die Realschulen haben einen deutlich höheren Anteil gymnasialempfohlener Kinder als die Gemeinschaftsschulen. Realschulen können seit Jahrzehnten gut mit gymnasialempfohlenen Kindern umgehen. Der Anteil lag traditionell zwischen ungefähr 20 und 35 Prozent. Wenn man das den Realschulen nicht anbietet, ist die Realschule eine Mittelschule, die den Hauptschulbildungsgang und den Mittleren Bildungsgang anbieten und das wertet die Realschulen deutlich ab.