Die deutsche Industrie ist wegen der ergebnislosen Brexit-Verhandlungen nervös. Wenn London so weitermacht, wird der EU-Ausstieg Großbritanniens ein Chaos, meint Wirtschaftsredakteur Roland Pichler.

Berlin - In der kommenden Woche sitzen sie sich wieder gegenüber: die Unterhändler der EU und Großbritanniens. Die Erwartungen sind gering. Vier Verhandlungsrunden zum EU-Ausstieg des Vereinigten Königreichs hat es schon gegeben. Herausgekommen ist dabei so gut wie nichts. Dass wichtige Gespräche anfangs eher zäh beginnen, ist zwar aus taktischer Sicht verständlich. Doch für solche Strategiespielchen fehlt dieses Mal schlicht die Zeit. Die Uhr läuft. Ende März 2019 will London die Europäische Union verlassen.

 

Dabei handelt es sich um einen Trennungsprozess, für den es keine Blaupause gibt. So müssen schätzungsweise mehr als 1000 wichtige Verträge geändert werden. Wie das nach den eingetretenen Verzögerungen zu schaffen ist, dafür fehlt den meisten Beobachtern die Vorstellungskraft. Die britische Premierministerin Theresa May scheint den Ernst der Lage völlig zu unterschätzen.

Nervosität der Industrie ist verständlich

Dass die deutsche Industrie aus diesem Grund nervös wird, ist verständlich. Handelsbeziehungen, die sich über Jahrzehnte hinweg eingespielt haben, müssen per Stichtag neu geordnet werden. Die enge Verflechtung der Warenströme macht das nicht leicht. Das fängt beim Verkehr an. Ob Zulassungsregeln von Autos oder Überflugrechte auf den Atlantikrouten – alles muss neu ausgehandelt werden. Dass sich die britische Regierung auf den Standpunkt stellt, mit Übergangsbestimmungen lasse sich ein Chaos abwenden, ist naiv. Denn auch Regeln für den Übergang müssen erst ausgehandelt werden. Ein Blick auf die Erfahrungen mit Handelsgesprächen lehrt jedenfalls Demut. Wenn Länder über Freihandels- und Investitionsschutzabkommen sprechen, dauert dies oft viele Jahre. So viel Zeit haben die Briten und die EU nicht.

Fatal ist, dass Großbritannien bisher kein Gespür für die drohenden Risiken entwickelt. Deutsche Unternehmen mit Niederlassungen in Großbritannien berichten, dass sich dort tägige Mitarbeiter aus anderen EU-Ländern nach Kontinentaleuropa versetzen lassen wollen. Das ist verständlich, ist doch deren künftiger Aufenthaltsstatus und der Zugang zu Sozialsystemen völlig ungeklärt. Das ist zwar nur ein kleines Detail von vielen. In der Summe können sich daraus aber gravierende Nachteile für das Vereinigte Königreich und die EU ergeben. Die ersten Anzeichen deuten darauf: Die Exporte der deutschen Autobauer nach Großbritannien gehen zurück. Ein Grund dafür ist die Brexit-Unsicherheit der britischen Verbraucher. Hinzu kommt: Es ist absehbar, dass EU-Firmen weniger in Großbritannien investieren werden. Die ersten Signale verdeutlichen das. So schauen sich die Banken mit großen Niederlassungen in London nach Ausweichquartieren in Frankfurt, Paris und Dublin um. Je länger die britische Regierung wichtige Fragen unbeantwortet lässt, umso stärker wird der Trend zur Abwanderung.

Den größten Schaden erleidet Großbritannien selbst

Großbritannien dürfte selbst den größten Schaden durch den Brexit erleiden. Das ist kein Grund für Genugtuung. Denn auch die Exportnation Deutschland wird das spüren. Dass das britische Experiment bisher glimpflich ausging, ist noch keine Gewähr dafür, dass der unverantwortliche Eingriff ohne Folgen bleibt. Die deutsche Wirtschaft ist gut beraten, Notfallpläne für das Brexit-Chaos zu entwickeln. Dass der sonst eher zurückhaltende Industrieverband BDI Alarm schlägt, sollte den Briten zu denken geben. Sie gehen bisher mit der Pose in die Gespräche, dass sie am längeren Hebel sitzen. Damit verkennen sie in fataler Weise die Situation. Die deutsche Wirtschaft ist auf vielen Auslandsmärkten so erfolgreich, dass sie einen Einbruch in Großbritannien verkraften kann. Andersherum gilt das nicht unbedingt.