An Helmut Schmidt war vieles vorbildlich – vor allem sein Rollenverständnis als Politiker, kommentiert Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Mit Helmut Schmidt ist der letzte Bundeskanzler verstorben, der als Erwachsener den Naziterror Adolf Hitlers und den Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Er gehörte wie seine Vorgänger Konrad Adenauer und Willy Brandt zur Aufbaugeneration der Bundesrepublik. Es waren eigenwillige Charaktere, von dramatischen Erlebnissen gezeichnete und gerade deshalb dem öffentlichen Wohl verpflichtete Führungspersönlichkeiten. Im Moment ihres Todes wird noch einmal bewusst, wie tief die Spuren sind, die sie in der Geschichte hinterlassen.

 

Der Sozialdemokrat Schmidt wird als der Mann in Erinnerung bleiben, der in den acht Jahren seiner Kanzlerschaft die Bundesrepublik erstaunlich unbeschadet durch eine ziemlich heikle Phase brachte, die durch Ölpreisschocks, eine Weltwirtschaftskrise, den Terror der RAF und einen Rüstungswettlauf von Nato und Warschauer Pakt geprägt war. Diese Jahre haben Schmidts Ruf als Krisenmanager und Staatsmann von internationalem Format begründet. Wie Adenauer und Brandt vor ihm, wie Helmut Kohl und Angela Merkel nach ihm spielte Schmidt im Konzert der europäischen Regierungschefs seiner Zeit eine herausragende Rolle.

Tiefe Abneigung gegen Ideologien und Utopien

Seit den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts prägte Schmidt als Senator, Abgeordneter, Fraktionschef, Minister und Kanzler jedoch nicht nur die Republik, sondern auch die SPD. Viele Genossen hatten mit seinem nicht selten arroganten, schneidigen Auftreten ihre Probleme. Geliebt wurde er von seiner Partei zu Amtszeiten nicht, es gab sogar teilweise erbitterten Widerstand gegen seine Politik. Erst mit fortgeschrittenem Alter wurden beide milder im Urteil übereinander – Helmut Schmidt und seine SPD.

Im Vergleich mit den anderen sozialdemokratischen Kanzlern Willy Brandt und Gerhard Schröder war Schmidt gewiss derjenige mit dem größten ökonomischen Sachverstand und der effektivsten Amtsführung. Sein Unverständnis über die Ende der Siebzigerjahre aufkommenden Friedens- und Ökologiebewegungen halfen allerdings entscheidend mit, dass sich neben der Sozialdemokratie dauerhaft eine neue Partei etablieren konnte – die Grünen.

Aber womöglich ist das bedeutendste Vermächtnis von Helmut Schmidt gar nicht die Leistungsbilanz seiner Kanzlerjahre, sondern sein Rollenverständnis als Politiker. Er hatte eine tiefe innere Abneigung gegen alle Formen politischer Utopien. Politisches Handeln sollte zwar moralisch legitimiert, aber doch zugleich zweckmäßig sein. Rationale Abwägung statt Gesinnung: das war Schmidts Kredo.

“Ich bin der leitende Angestellte der Bundesrepublik“

Mit den Worten „Ich bin der leitende Angestellte der Bundesrepublik Deutschland“ beschrieb Schmidt sein Rollenverständnis als Politiker und Kanzler. Der Erwartung, dass er als Regierungschef neben der politischen auch die „geistige“ Führung des Landes zu übernehmen habe, hat er immer widersprochen. Dabei war, wie der Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal anmerkte, „seine geistige Führung augenfällig“ – durch persönliche Autorität wie durch fundierte Kenntnis der Werke großer Denker. Aber es war keine geistige Führung im Sinne einer Ideologie oder eines umfassenden Gesellschaftsentwurfs, sondern eine Hinleitung zu politischem Pragmatismus.

Sein herausragender Intellekt wie seine große internationale Erfahrung haben Schmidt zu einer bedeutenden Stimme auch nach der Kanzlerschaft gemacht. Ihm gebührt das Verdienst, früher und eindringlicher als der Rest der politischen Klasse in Deutschland auf die Herausforderungen der Globalisierung und den Aufstieg Chinas hingewiesen zu haben. Helmut Schmidt hatte viel zu sagen. Und die Deutschen wollten ihn hören. Durch seinen Tod verliert die Republik einen glänzenden, kosmopolitischen Staatsmann.