Die Betreiberin der Instagram-Seite „Vollzeitprinzessinnen“ schrieb kürzlich den treffenden Satz: „Geschwister zu haben ist schon etwas Komisches. Ich würde für meine Schwester eine Kugel abfangen, aber mein Ladekabel bekommt die doofe Kuh ganz sicher nicht.“ Das fasst die ambivalente Beziehung zwischen Geschwistern nahezu perfekt zusammen. „Wir wachsen mit unseren Geschwistern von klein auf zusammen auf, und es sind sehr enge Beziehungen“, sagt der Psychologe Jürg Frick, Geschwisterforscher und emeritierter Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Das Besondere daran sei, dass die Beziehung nicht künstlich hergestellt werden wie zum Beispiel wie die zu Freunden oder dem Lebenspartner, sondern sie bestehe qua Geburt. „ Die gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte bilden ein unauflösbares Band.“
In Liebe und Abneigung verbunden
Vor allem dadurch birgt diese besondere Beziehung ein großes Konfliktpotenzial. Es gebe verschiedene Gründe, warum es Konflikte unter Geschwistern geben könne. „Sehr häufig gründen diese in der Beziehung zu den Eltern“, sagt Frick. Oft fühle sich zum Beispiel ein Geschwisterkind immer benachteiligt und sei eifersüchtig.
Aber auch der spätere Lebensweg hat laut Frick einen Einfluss darauf, wie das Verhältnis sich entwickele. „Manchmal ist eines der Geschwister erfolgreicher im Beruf, eines hat vielleicht mehr Freunde“, sagt er. Die Vergleiche, wer in welchen Bereichen mehr erreicht habe, dauerten oft sogar bis ans Lebensende an. Dabei sei es entscheidend, wie die Eltern dazu Stellung nehmen. Ist es zum Beispiel innerhalb einer Familie wichtig, welchen gesellschaftlichen Status jemand durch seinen Beruf erlangt, kann dies einen Konkurrenzkampf unter den Geschwistern schüren.
Dieser kann sich irgendwann derart verhärten, dass ein normaler Umgang nicht mehr möglich ist. „Um das Verhältnis wieder zu verbessern oder zu verändern, braucht es immer beide“, sagt Frick. Dazu müsse man sich gegenseitig zuhören können – ohne zu werten. Dem anderen Geschwister Vorwürfe zu machen wie „Du denkst, du kommst immer zu kurz“ helfe meistens nicht. In der Regel wolle ein Gegenüber im Konflikt keine hobbypsychologischen Deutungen über sich selbst hören. Auch Gegenvorwürfe hält Frick für kontraproduktiv, weil Geschwister zudem häufig völlig unterschiedliche Erinnerungen an alte Geschichten aus der Familie hätten. „Das bringt meistens nichts zu sagen, dass es anders war. Besser ist es, dies nur zur Kenntnis zu nehmen“, rät der Psychologe.
Die Partner haben ebenfalls einen Einfluss
In der Forschung zur Geschwisterpsychologie ging man lange davon aus, dass Geschwister zu haben etwas Positives ist, weil Geschwister eine wichtige Funktion in der Sozialisierung erfüllen, sich gegenseitig anregen und voneinander lernen. Eine neuere Studie der Ohio State University kam aber zu einer anderen Auffassung. Demnach hätten Teenager mit zwei Geschwistern mehr depressive Symptome oder Ängste als Gleichaltrige mit nur einem oder keinem Geschwisterkind. Die Wissenschaftler hatten rund 9400 Achtklässler aus China und 9100 gleichaltrige US-Amerikaner befragt.
Ein Forscherteam der Universität Toronto kam jedoch in einer Langzeitstudie zu dem Ergebnis, dass schon eine positive Beziehung zu einem Bruder oder einer Schwester die psychische Resilienz stärken kann.
Haben Geschwister wirklich einen negativen Einfluss auf die Psyche?
Allerdings ist die Interpretation solcher Studien immer schwierig. Psychische Erkrankungen haben vielfältige Auslöser, weshalb die Interpretation einer einzelnen Studie oft ein verzerrtes Bild geben kann.
So bestätigen andere Studien, dass die Art des Verhältnisses zwischen Geschwistern stark vom Verhalten der Eltern abhängt. Wenn Eltern einem Kind besonders viel Zuneigung entgegenbringen, also ein Lieblingskind haben, kann dies negative Auswirkungen auf beide Kinder haben – weil eine starke Rivalität entsteht. Dies haben die Wissenschaftler Hegola Ross und Joel Milgram bereits im Jahr 1982 herausgefunden. Daten einer großen Längsschnittstudie aus den USA („Within Family Differences-Studie“) zeigen, dass sogar die Lieblingskinder später im Leben häufiger mit depressiven Symptome zu kämpfen haben.
Aus Sicht von Martina Stotz, Geschwisterforscherin, promovierte Pädagogin sowie Erziehungs- und Familienberaterin aus München, ist es daher wichtig, Geschwisterkinder gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt zu behandeln. Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder haben, sollten sich am Alter des Kindes orientieren. So kann ein älteres Kind vielleicht mit mehr Freiheiten verantwortungsvoller umgehen als ein jüngeres. „Kindern gibt es Sicherheit, wenn Eltern ihren Platz, zum Beispiel als Erstgeborener anerkennen“, sagt Stotz. Das könne zum Beispiel sein: „Du bist der Älteste, du darfst länger aufbleiben.“
Eltern sollen keine Schuldigen suchen
Aus ihrer Sicht hängt das psychische Befinden aber definitiv nicht davon, ob Kinder einzeln oder mit Geschwistern aufwachsen, vielmehr hänge es von der kompetenten Begleitung der Eltern ab. „Aber es ist sicher schwieriger, Geschwister zu erziehen als Einzelkinder“, so ihre Erfahrung.
Deshalb bietet Stotz einen Geschwister-Onlinekurs an. Rund 800 Eltern nehmen an ihrem aktuellen Kurs teil. Dafür hat die Pädagogin unter anderem 15 typische Geschwisterkonflikte identifiziert, sie zeigt in Rollenspielen, wie diese gelöst werden können. Ein wichtiger Punkt ist, wie Eltern Streitereien unter ihren Kindern begleiten. „Eltern sollten dabei keine Schuldigen suchen und eingreifen“, betont Stotz.
Dies schade der Geschwisterbeziehung, weil daraus häufig ein ewiger Täter-Opfer-Kreislauf entstünde – der später im Leben häufig beibehalten werde. Bei einem Streit sollten Eltern mehr schauen, welches unerfüllte Bedürfnis sich hinter dem Verhalten beider Kinder verbirgt. Wenn ein älteres Kind das Jüngere schlage, sei es vielleicht eifersüchtig und brauche Nähe. Es habe noch keine bessere Strategie und brauche ein klares Stopp und dann Zuwendung anstatt Strafe.
Nach ihrer Erfahrung seien es aber oft eher äußere Strukturen, die dauerhafte Konflikte begünstigen. „Nämlich, wie es den Kindern in der Familie geht und wie viel Zuwendung sie erhalten“, sagt Stotz. Einen negativen Einfluss hätten dabei auch Paarprobleme, finanzielle Sorgen oder ein autoritärer Erziehungsstil.
Nach der Erfahrung von Jürg Frick weichen sich später im Leben verhärtete Fronten aber trotzdem häufig auch wieder auf. Er habe einmal zwei Schwestern kennengelernt, die sich überhaupt nicht verstanden hatten. Als die eine Schwester schwer erkrankte und eine Niere brauchte, habe die jüngere Schwester sie ihr gespendet. „Das hat die ältere Schwester wirklich aus den Socken gehauen – das hatte sie von dieser ‚blöden Kuh‘ nicht erwartet.“ Dies habe die Schwestern wieder vereint. „Ich rate deshalb immer, die Türe nie ganz zu verschließen“, sagt Jürg Frick.
Weitere Informationen rund um die Erziehung von Geschwistern
Forschung
Jürg Frick gilt als einer der Forscher, die sich intensiv der Beziehung von Geschwistern gewidmet haben. Er hat das Buch „Ich mag dich – du nervst mich. Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben“ geschrieben.
Beratung
Martina Stotz, promovierte Pädagogin sowie Erziehungs- und Familienberaterin, bietet über Mein-erziehungsratgeber.de neben anderen Erziehungskursen einen großen Geschwister-Onlinekurs an und gibt bei Instagram (@dr_stotz_kinderpsychologie) zahlreiche kostenfreie Tipps für die Erziehung von Geschwistern. (nay)