Egal ob Hubert Aiwanger oder Friedrich Merz: Konservative sehen wieder den „normalen Bürger“ bedroht. Politikwissenschaftler Thomas Biebricher erklärt, warum sie mit solchen Äußerungen ihren Parteien keinen Gefallen tun – und die AfD profitieren könnte.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Konservative und Populisten sprechen wieder oft vom „normalen Bürger“ – wer das sein soll und was die Gefahr für die Konservativen ist, wenn sie solche rhetorischen Figuren bemühen, das erklärt Politikwissenschaftler Thomas Biebricher.

 

Herr Biebricher, wer ist denn der „normale Bürger“, von dem alle reden?

Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Wir leben in ausdifferenzierten, pluralistischen Gesellschaften in Westeuropa. Normalitätsvorstellungen sind problematisch. Wenn von normalen Leuten die Rede ist, stehen dahinter meist Vorstellungen von einem komplett homogenen Milieu. Das ist ein Trugbild. So etwas gibt es heute nicht mehr. Man muss sich daher fragen, warum Politiker von normalen Leuten sprechen, welches Ziel sie verfolgen.

Welches denn?

Sie wollen entsprechend ihrer konservativen Werte etwas verteidigen, was für manche natürlich, selbstverständlich und schon immer so gewesen ist. Das wird repräsentiert von normalen Leuten. Was sie als normal wahrnehmen, ist aber nur normalisiert innerhalb einer Gruppe, also eigentlich ein Konstrukt. Die Normalen sehen sich in Opposition gegenüber allem Radikalen oder Extremen oder Abweichenden. Das macht das Konzept des Normalen für Konservative attraktiv.

Thomas Biebricher Foto: privat/Heike Steinweg

Von „normalen Leuten“ zu sprechen, ist das schon Populismus?

Man driftet damit nicht sofort in Richtung ganz rechter Rand ab. Aber wenn nahegelegt wird, wie es ja in vielen der Wortmeldungen zurzeit geschieht, dass diese normalen Leute unter Druck gesetzt werden oder gefährdet sind durch abweichende, radikale Haltungen und Vorstellungen, wird es problematisch. Sie sehen sich dann als „schweigende Mehrheit“ – auch ein schwieriger Begriff, den kürzlich ja Hubert Aiwanger in seiner Rede in Erding verwendete.

Was hat es damit auf sich?

Dahinter steht die Vorstellung, dass die normalen Leute eigentlich in der Mehrheit seien, aber eben nicht so gut organisiert wie all die radikalisierten Minderheiten und dementsprechend immer wieder zum Opfer dieser radikalisierten Minderheiten werden. Die „schweigende Mehrheit“ wurde von Nixon während des Vietnamkriegs benutzt, um die amerikanische Gesellschaft in zwei Gruppen aufzuspalten. Die „schweigende“ und implizit weiße Mehrheit, die laut Nixon ihre Normalität durch gesellschaftliche Veränderungen erodieren sah, ihnen gegenüber ethnische Minderheiten, Intellektuelle, Liberale und Kosmopoliten.

Warum können Politiker damit punkten, manche Leute als normal anzusprechen?

Viele Menschen wollen zur normalen Mitte der Gesellschaft gehören und über jeglichen Ideologie- oder Radikalitätsverdacht erhaben sein. Da ist oft auch die Rede vom gesunden Menschenverstand.

Dabei ist die Erzählung vom normalen Bürger auch eine Art Ideologie.

Ja, im deutschen Kontext zieht sich das durch die ganze Nachkriegsgeschichte. Gerade bei den Konservativen. Die CDU/CSU sieht sich in der gesellschaftlichen Mitte beziehungsweise behauptet einfach, da, wo wir sind, ist die Mitte, und wir vertreten die Normalität.

Warum funktioniert das als rhetorisches Mittel gerade jetzt so gut?

Ich glaube, es gibt Zeiten, in denen das forciert eingesetzt wird. In denen die Wahrnehmung geschürt wird, da sei etwas in Gefahr, von den Radikalen bedroht. Ich würde aber nicht unbedingt sagen, dass man das heute sehr viel mehr hört als zu anderen Zeiten.

Forciert eingesetzt, sagen Sie, heißt das, hier werden gar nicht Stimmungen aufgegriffen, sondern erst geschürt?

In meinem Politikverständnis ist es so, dass gesellschaftliche Stimmungen nicht naturwüchsig entstehen. Das hat etwas mit dem politischen Angebot zu tun. Und damit, inwieweit man bestimmte Vorstellungen von politischer Seite stärkt – oder bewusst versucht, Akzente dagegen zu setzen.

„Die AfD hält, was die CSU verspricht“, heißt es auf einem AfD-Wahlplakat – spielt das populistische Gehabe der Konservativen den Rechtsextremen zu?

Das Plakat bringt die Gefahr für die Konservativen auf den Punkt. Wenn man dieses Spiel spielt, das gerade von Aiwanger oder von Teilen der CDU und der CSU gespielt wird, dann erreicht man zwar kurzfristig bestimmte Milieus, die mittlerweile eher der AfD zuneigen. Aber wenn dann keine Taten folgen, verliert man diese Leute sofort wieder. Man kann sie nur an sich binden um den Preis der Selbstradikalisierung. Und genau in diese Wunde legt dieser Spruch den Finger.

Zur Person

Professur
Thomas Biebricher ist Politikwissenschaftler und Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Veröffentlichungen
Zuletzt erschien von ihm „Mitte/Rechts. Die internationale Krise der Konservatismus“ (Berlin, Suhrkamp 2023).