Keines der zehn Glieder der menschlichen Hand hat es zu ähnlichem Ruhm gebracht wie der rechte Mittelfinger. Als obszöne Geste ist der Stinkefinger aus dem Politikgeschäft und der Kulturgeschichte nicht wegzudenken.
Stuttgart - „Was Du wolle?“ Ein Bundeswirtschaftsminister, der den Stinkefinger grinsend reckt und rechten Pöblern die A . . . karte zeigt. „Ihr könnt mich mal!“ Aber Herr Gabriel, das geht gar nicht? Oder doch? Als Vermummte Sigmar Gabriel jüngst bei einem Wahlkampfauftritt im niedersächsischen Salzgitter lautstark versuchten zu stören und ihn als „Volksverräter“ beschimpften, ist der 56-jährige SPD-Chef ausgetickt.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) kommentierte daraufhin die obszöne Geste seines Parteifreundes mit den Worten: „Auch Politiker müssen sich nicht alles gefallen lassen.“ Mit seiner gestischen Entgleisungen steht Gabriel nicht alleine, wie folgender Rückblick in die Kulturgeschichte des Stinkefingers zeigt (der übrigens auch im Tierreich sehr verbreitet ist):
„Penner“, „Scheißkerl“, „Sackgesicht“, „Arschloch“
Der griechische Ex-Finanzminister Gianis Varoufakis steht auf den Stinkefinger. Genauso wie Grünen-Politikerin Renate Künast, SPD-Urgestein Wolfgang Clement und der Ex-Kanzlerkandidat der Partei, Peer Steinbrück. Dessen Bild auf der Titelseite des „SZ Magazins“ vom September 2013 ist längst eine Kultgeste der politischen Pop-Kultur. Es zeigt einen grimmig dreinschauenden Steinbrück mit verschränkten Armen, halb geöffnetem Mund und steil aufgerichtetem rechten Mittelfinger.
Wer richtig sauer ist und mal Dampf ablassenwill, greift tief in die Obszönitäten-Kiste. „Scheißkerl“, „Penner“, „Sackgesicht“, „Drecksau“, „Arschloch“, „Wichser“, „Vollpfosten“. Zugegeben, es geht auch eine Nummer leiser, ohne verbale Brachialgewalt, dafür nicht minder effektiv und beleidigend. Aber: „Eine Geste kann mehr als einen ganzen Satz ersetzen“, betont der Freiburger Sprachforscher Hans Martin Gauger.
„Digitus impudicus“ – schamloser, unzüchtiger Finger
Schon in der Antike wurde der steil in die Höhe gereckte Mittelfinger überaus geschätzt, um seinem Gegenüber die unflätige Meinung zu geigen. „Digitus impudicus“ – schamloser, unzüchtiger Finger nannten ihn die alten Römern. Eine derb verhöhnende Anspielung auf den Analverkehr zwischen Männern.
Doch warum gerade „Digitus manus III“, das dritte Endglied der Hand, wie er in der Medizin bezeichnet wird? Und warum die rechte Hand? Vielleicht, weil schon in der Antike die meisten Rechtshänder waren. „Digitus medius“, der Mittelfinger, ist zwar weniger beweglich als Daumen und Zeigefinger, dafür ist er aber mit seinen drei Fingergliedknochen der längste und kräftigste Finger. Prädestiniert für nonverbale obszöne Gesten.
Wie verbreitet der Stinkefinger bereits im Altertum war, zeigt ein Vers aus der „Carmina Priapea“, eine von einem anonymen antiken Autor zusammengetragene Sammlung erotischer Gedichte. Die Anthologie hat ihren pikanten Namen von dem mit einem übergroßen Phallus gesegneten Gartengott Priapus.
„Welch eine schwere, Priapos, und harte, kraftvolle Waffe“
Der mythologischen Überlieferung zufolge hatte Liebesgöttin Aphrodite eine Liaison mit Dionysos, dem Gott des Weines. Heras, Gattin des Obergottes Zeus, behagte das Techtelmechtel gar nicht. Zur Strafe missgestaltete sie Klein Priapus mit einem überdimensionalen Fortpflanzungsorgan. Entsprechend üppig ausgestattet wurde er zum Gott der Fruchtbarkeit und Beschützer von Schafen, Ziegen, Bienen und Früchten auserkoren.
Im 56. Gedicht der „Carmina Priapea“ heißt es (nach einer Übersetzung des Stuttgarter Gestenforschers und Romanisten Reinhard Krüger): „Welch eine schwere, Priapos, und harte, kraftvolle Waffe / Reckst du aus deinem Schoss also empörend empor.“ Im alten Hellas und Rom stellte man hölzerne Priapus- Standbilder im und ums Haus auf, um Unheil abzuwehren. Dieben signalisierte man auf diese Weise: Wer stiehlt, den straft Priapus mit Zwangsvergewaltigung.
Um andere zu schmähen, brauchte man indes keine Zaubermittel. Schon den Philosophen Diogenes von Sinope (410–323 v. Chr.) und Sokrates (469–399 v. Chr.) galt der ausgestreckte Mittelfinger als unverhohlene Drohung: Halte Abstand, sonst . . .
Von den alten Griechen bis zur Postmoderne
„Digitus medicinalis“
Reinhard Krüger, der als Professor Kulturanthropologie an der Universität Stuttgart lehrt, hat ein amüsantes Buch über die kulturgeschichtliche Genese des Stinkefingers geschrieben („Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste“, Verlag Galiani Berlin, 2016). Ihm zufolge trugen antike Ärzte Salben mit dem Mittelfinger auf, weshalb dieser „Digitus medicinalis“ genannt wurde. Das Attribut „stinken“ ist selbsterklärend.
Schnipp Schnapp und der Stinkefinger ist ab
Mit dem Ausgang der Antike im 5. Jahrhundert verlieren sich laut Krüger die Spuren und der Stinkefinger geriet für lange Zeit in geschichtliche Vergessenheit. Erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts kam er in Europa dank der Bogenschützen des englischen Königs Henry V. während des Hundertjährigen Krieges wieder zu Ehren. Nach dieser sogenannten Bogenschützen-Theorie klemmten Henrys Mannen den Pfeil zwischen Mittel- und Zeigefinger ein.
Wer den Franzosen in die Hände fiel, dem schnitten diese zur Strafe unbarmherzig die beiden Finger ab und machten ihn so wehruntauglich. Mit der Robin-Hood-Karriere war’s vorbei. Der Legende nach sollen die Engländer vor der berühmten Schlacht von Azincourt 1415 (die das reinste Gemetzel am Franzosen war) den französischen Rittern mit den beiden ausgestreckten Fingern signalisiert haben, dass sie schussbereit waren. Aus dieser Geste sollen die britische Version des Zwei-Finger-Stinkefingers und das „Victory“- Zeichen entstanden sein.
Stinkefinger-Fans: Johnny Cash, Martin Luther King, Kate Winslet
Wieder vergingen ein paar Jahrhunderte, bis der Stinkefinger erneut Triumphe feierte. Countrysänger Johnny Cash zeigte ihn während seines legendären Live-Konzerts am 24. Februar 1969 in der Haftanstalt San Quentin State Prison in Kalifornien.
Matrosen des amerikanischen Aufklärungsschiffs „USS Pueblo“ streckten ihre Mittelfinger subversiv auf Fotos in die Höhe, nachdem sie von Nordkoreanern gefangen genommen worden waren.
Auch Prominente wie der Bürgerrechtler Martin Luther King, Schauspieler Clark Gable, Rockstar Ike Turner und die Schauspielerinnen Elisabeth Taylor und Kate Winslet machten es.
Der Top-Klassiker: „Effe-Finger“
Spätestens seit Stefan Effenberg seine Verachtung für die vom miserablen Spiel der deutschen Elf enttäuschten Zuschauer bei der Fußball-WM 1994 in den USA mit einem Stinkefinger in die Kameras quittierte (seitdem auch „Effe-Finger“ genannt), ist die Geste jedem hierzulande geläufig. Effenberg wurde vom damaligen Bundestrainer Berti Vogts aus der Nationalmannschaft geschmissen.
Verdi-Chef Frank Bsirske ließ 2010 auf einem Gewerkschaftskongress alle Disziplin fahren und reckte bei seiner Rede gleich den rechten und linken Stinkefinger in die Höhe. „In hoc signo vinces“ – „In diesem Zeichen wirst du siegen“ könnte man in Anspielung auf eine lateinische Redewendung (die sich auf den Sieg Kaiser Konstantins über seinen Rivalen Maxentius 312 in der Schlacht bei der Milvischen Brücke bezieht) auch sagen.
Selbsterklärende Geste
Das Gute am Stinkefinger ist, dass er als nonverbale Geste selbsterklärend ist: „Du kannst mich mal“, „Ich hab gerade keinen Bock“, „Leck mich“ oder (im Englischen beliebt) „Fuck you!“, „Fuck off!“ (im Englischen heißt er einfach „the finger“). Das versteht (fast) jeder auf der Erde sofort. In der bezüglich Beleidigungen und Fluchen fäkalorientierten deutschen Sprache steht nicht so sehr das phallisch Sexuelle, sondern der „exkrementelle Zusammenhang“ im Vordergrund, wie Sprachforscher Gauger erklärt.
Teutonische Sprachbilder hingen fast ausschließlich mit Ausscheidungen, mit Kot und Urin zusammen. „Wir bewegen uns ziemlich eigensinnig, allerdings mit einiger Fantasie, auf der, deutlich gesagt, Scheiß-Linie.“ Gauger nennt das „exkrementelle Obsession“.
Vulgär bis zum Abwinken
Dass diese Geste „stinkt“, liegt angesichts der Wortgenese nahe. Ausgerechnet die als ordnungsliebend geltenden Deutschen fluchen und gestikulieren skatologisch – mit Vorliebe für Fäkalsprache. „Arsch“, „Mist“, „Scheiße“ rutschen ihnen schnell mal über die Lippen, wenn sie im Stau stecken oder jemandem verbal eins überbraten wollen. Wem Reden Silber und Schweigen Gold ist, der genießt lieber seinen Zorn, indem er mit Verve den Mittleren reckt.
Stinkefinger zeigen ist wie Fluchen eine spontane Angelegenheit. Man reagiert aus dem Effekt heraus, nicht mit dem Verstand. Wer seinem Boss, dem Streifenpolizisten oder Blitzer diese „vulgäre Geste der Missachtung“ entgegenschleudert, lässt sich ziemlich unziemlich gehen. Irgendein Ventil braucht schließlich jeder, um Ärger und Anspannung, Frust und Wut abzubauen. Obwohl ein ostentativöffentlicher Stinkefinger als Beleidigung nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches (StGB) geahndet wird, hat die Geste durchaus eine kathartische – das heißt reinigende Wirkung auf die Seelenhygiene.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein verbaler und gestischer „Stuhlgang der Seele“ befreit und Stress abbaut. Die möglichen rechtlichen und finanziellen Folgen eines Stinkefingers machen den schnell nachlassenden positiven Effekt allerdings wieder vollkommen zunichte. Deshalb ein Tipp: Finger weg vom Stinkefinger!
Info: Das droht beim Stinkefinger
Ordnungshüter
Das deutsche Gesetz kennt keine Gnade. Wer einem anderen den Stinkefinger zeigt, erfüllt nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches (StGB) den Tatbestand der Beleidigung. Weist der Kläger eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung nach, können vor Gericht 600 bis 4000 Euro fällig werden. Einem Polizisten derart seinen Unmut und seine Empörung entgegenzuschmettern, sollte man tunlichst lassen, weil eine Anklage reine Formsache ist.
Blitzer
Radarfallen sind für notorische Temposünder eine echte Zumutung. Kein Wunder, dass mancher Auto oder Motorradfahrer beim Blitzen nicht an sich halten kann und die Videokamera mit einer „obszönen Geste der Missachtung“ straft. Solche spontane Gefühlsentladung sollte man besser lassen, weil auch sie als Beleidigung durchgeht.
Arbeitsplatz
Das Arbeitsleben ist kein Ponyhof, weshalb einem schon mal der Finger entgleiten kann. Geschieht das gegenüber dem Chef, kann dies den Job kosten. Also lieber den Ärger in sich reinfressen und zu Hause vor dem Spiegel den Stinkefinger rauslassen.
Nachbarschaft
Um der ungeliebten Nachbarschaft eins überzubraten und Stinkefinger-Sticker am Auto oder Briefkasten aufzukleben oder als Pappschild bei Demos rum zu tragen, ist nicht strafbar. Wer allerdings seinen Nachbar nachweislich ärgern will und einen Gartenzwerg mit Stinkefinger unmissverständlich an der Gartengrenze postiert, muss mit einer Beleidigungsklage rechnen.