In einem idyllischen Wäldchen sanft über dem Gäu ragt ein bizarres Relikt aus dem Waldboden: Die verrosteten Stahlträger und eine kreisrunde Mauer deuten auf ein dunkles Kapitel in der Geschichte hin. Unsere Serie über Lost Places in der Region

Es gibt kaum einen idyllischeren Ort im Kreis Böblingen als diesen. Die sanfte Anhöhe mit ihren Wacholderheiden, die Blicke bis in den Sindelfinger Wald und den Schönbuch erlaubt. Kaum einer vermutet hier oben einen der Schauplätze des Zweiten Weltkriegs. Wer diesen entdecken will, muss mit offenen Augen unterwegs sein. Denn in dem kleinen Wäldchen um den höchsten Punkt auf 537 Metern schlummert eine Ruine der Luftwaffe, die zunächst Rätsel aufgibt. Die Rede ist vom Venusberg zwischen Aidlingen und Lehenweiler.

 

Der Lost Place ist als „Drehfunkfeuer“ verzeichnet

Rund 15 Meter abseits eines Waldwegs ragt sie aus dem Waldboden: eine rund zwei Meter hohe, halbrunde Stahlkonstruktion zwischen den Bäumen, von Moos überzogen. Das Merkwürdige daran: Die Träger sind umgeben von einem Betonkreis mit rund 23 Meter Durchmesser. Aus der etwa 1,50 Meter dicken, kreisrunden Mauer stehen außerdem Metallstifte heraus – zu was sie wohl dienten? In Sichtweite davon: Zwei weitere Backsteingebäude, eines noch komplett erhalten, das andere halb verfallen.

Die kreisrunde Mauer gibt zunächst Rätsel auf /Stefanie Schlecht

Die Antwort liefert weder ein Hinweis vor Ort, noch liefern sie die offiziellen Schautafeln am Randes des Naturschutzgebiets. Allerdings gibt das Internet eine erste Antwort: Der Ort ist als Sehenswürdigkeit namens „Drehfunkfeuer“ verzeichnet. Wer weiter gräbt, landet beim Heimatgeschichtsverein Aidlingen, der die Geschichte der Anlage aufgearbeitet hat und zu besonderen Anlässen schon Führungen zu der Militärruine angeboten hat. Vereinsmitglied Andreas Wolf beschäftigte sich schon vor über acht Jahren mit diesen bizarren Überresten. „Diese Funkanlage der Wehrmacht wurde zwischen 1944 und 1945 gebaut, allerdings nie ganz fertiggestellt“, sagt er. Es handelte sich dabei um eine sogenannte Funksendeanlage 724/725, Modell Bernhard, von denen im Rahmen der Operation Todt insgesamt 16 Anlagen im damaligen Reichsgebiet errichtet werden sollten, um den deutschen Luftraum vor allem nachts zu überwachen.

Wurde Lost Place ursprünglich von Kriegsgefangenen errichtet?

Aufschrift auf einer Tür der Ruine /Stefanie Schlecht

Intensiv damit befasst hat sich auch der Verein Forschungsgruppe Untertage, der sich auf Relikte aus diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte spezialisiert hat. Auf der Homepage des Vereins ist zu lesen: „Die exponierte Lage der Kuppe war ideal für eine Funknavigationsanlage der Luftwaffe.“ Die Bauarbeiten hätten Mitte 1944 unter dem Kommando der Luftwaffe begonnen, dabei kamen Zwangsarbeiter zum Einsatz, „sehr wahrscheinlich russische Kriegsgefangene“, schreiben die Forscher.

Es entstand eine Anlage imposanten Ausmaßes: 28 Meter hoch, 35 Meter breit und 120 Tonnen schwer. „Sie bestand aus zwei leicht zueinander gedrehten Antennenkonstruktionen, deren Richtstrahlen sich überlappten“, heißt es weiter. Diese gigantische Antenne war auf der Trägerkonstruktion gelagert. Auf dem Betonkreis drum herum waren umlaufende Schienen angebracht, auf denen sich das Monstrum drehte: Zweimal pro Minute um 360 Grad.

In dem Backsteingebäude sollen sich die Generatoren befunden haben /Stefanie Schlecht

„In Aidlingen besorgten den Antrieb vier Kleinelektrolokomotiven von Siemens“, schreiben die Untertage-Forscher. Diese benötigten eine Menge Energie, was die Funktion der Nebengebäude erklärt: Sie beherbergten Diesel-Generatoren aus französischen Schnellbooten, um die riesige Drehantenne mit Strom zu versorgen. Wofür aber betrieb die Luftwaffe diesen Aufwand?

Abfangjäger sollten von der Anlage profitieren

Anhand der Richtstrahlen habe man die Position eines Flugzeugs am Himmel genau bestimmen können, schreiben die Historiker. „Für die Nachtjagd der in die Defensive geratenen Luftwaffe war die Technologie ein elementares und sehr effizientes Mittel, um die Nachtjäger präzise an die feindlichen Bomberverbände heranzuführen.“ Das Prinzip werde auch heute noch in der Luftaufklärung genutzt, heißt es weiter. Kaum vorstellbar, dass eine Antenne dieser Größe bei der heimischen Bevölkerung unbemerkt blieb.

Eine der verlassenen Baracken ist verrammelt /Stefanie Schlecht

Blieb sie auch nicht: Tatsächlich wurden einzelne Aidlinger für Fuhrdienste zwangsverpflichtet, Soldaten der Luftwaffe waren bei Einheimischen untergebracht. Ein Holzbauer wurde von den Soldaten herangezogen, da er ein Ochsenfuhrwerk besaß. Er musste auch den 22 Meter hohen „Diodenmast“ am Ehninger Bahnhof abliefern, der dort fertig montiert angeliefert wurde. Der Trupp errichtete diesen in knapp einem Kilometer Entfernung zur Anlage, davon sind allerdings keinerlei Überreste erhalten.

Eine Sprengung zerstörte das Bauwerk – bis auf Mauerreste

Den Untergang der Luftwaffe konnte die Anlage nicht mehr bremsen oder gar aufhalten, denn sie kam wohl nie zum Einsatz. Es ist überliefert, dass es sowohl Mangel an Baustoffen gab, als auch Probleme bei der Anlieferung. Trotzdem konnte noch im Januar 1945 ein erster Testlauf begonnen werden, der jedoch technische Probleme offenbarte: „Die französischen Diesel überhitzten schnell und der Kabelschacht des Drehfunkfeuers lief bei einem schweren Regenguss voll“, schreiben die Untertage-Forscher.

Als die Franzosen am 15. April das nur 15 Kilometer entfernte Calw besetzten, wollte die Wehrmacht verhindern, dass ihnen die Technologie in die Hände fiel: Pioniere sprengten das riesenhafte Gerät am Tag darauf, drei Wochen vor Kriegsende. Der Schrott blieb laut den Historikern zunächst einige Monate liegen und wurde dann von Metallhändlern abtransportiert. Die restlichen Trümmer blieben sich selbst überlassen und überwucherten mit der Zeit.

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