Drei junge Männer aus Gambia sagen, sie fühlten sich während der Polizeirazzia in Backnang an ihre schlimmste Zeit in Libyen erinnert. Im Gemeinderat und auf Facebook wird der Einsatz kontrovers diskutiert.
Backnang -
Prince Touray ist erst 19 Jahre alt. Er hat aber schon viel erlebt, vielleicht zu viel für einen jungen Mann, der eigentlich Musiker ist und sagt, dass er im Grunde nur trommeln wolle. Der Asylbewerber, der vor etwa drei Monaten in Backnang gestrandet ist, berichtet von schlimmen Erlebnissen während seiner fast eineinhalbjährigen Flucht nach Europa. Der Mann aus Gambia sitzt an diesem Donnerstagabend zusammen mit zwei anderen, etwa gleichaltrigen Flüchtlingen aus dem westafrikanischen Land sowie drei Mitgliedern des Arbeitskreises Asyl im Backnanger Jugendzentrum (Juze), um über die Razzia mit 250 Polizisten in ihrem Wohnheim am frühen Dienstagmorgen zu beraten (wir berichteten).
Das Trio und die AK-Mitglieder kritisieren den massiven Einsatz, bei dem sich viele der Asylbewerber unmittelbar nach dem Wecken nackt hätten ausziehen müssen – obgleich nichts gegen sie vorgelegen habe. Er habe sich an seine schlimmste Zeit auf der Flucht in Libyen erinnert, sagt Touray. Experten würden vermutlich erklären: Prince Touray und seine beiden Freunde seien traumatisiert, und am Dienstagmorgen retraumatisiert worden. Wenn er Uniformierte mit Waffen sehe, dann fahre es ihm in den Magen, ihm werde übel, sagt Touray. Als er am Dienstagmorgen von Bewaffneten in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf gerissen wurde, sei er in Panik geraten. Die Beamten hätten die Zimmer nämlich betreten, ohne sich anzukündigen. Er habe großes Verständnis dafür, dass die gesuchten Drogendealer geschnappt werden müssten. „Aber wir sind unschuldig.“
Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Einsatzmittel
Menschen, die in Deutschland Sicherheit suchen, würden „schlechter behandelt als in Gambia“, sagt Armin Holp, der ehemalige Vorsitzende des Juze, der beim AK Asyl die Fußballgruppe leitet. „Die Polizei hat nicht das Recht, jemanden zum Entblößen aufzufordern, nur weil im Nebenzimmer ein starker Kiffer wohnt.“ Die Beamten seien selbst in die Zimmer von Abstinenzlern eingedrungen, mitunter seien die Drogenspürhunde in die sauberen Betten gesprungen. Der AK begrüßt, dass die Polizei gegen Flüchtlinge vorgeht, die mit Haftbefehl gesucht werden, bezweifelt aber„die Verhältnismäßigkeit der Einsatzmittel“.
Bei der Razzia wurden drei mutmaßliche Dealer verhaftet und 100 Gramm Cannabis sowie rund 1300 Euro beschlagnahmt. Der Polizeieinsatz hat nach den Zeitungsberichten kontroverse Diskussionen ausgelöst. Der Arbeitskreis Asyl befürchtet, dass nun die gute Stimmung in der Stadt kippen könnte – wegen der Drogendealer, aber auch wegen der aus ihrer Sicht überzogenen Polizeiaktion.
„Massiven Beschwerden“ der Anwohner und der Schule
Die Polizei erklärt auf Anfrage, erfahrungsgemäß würden Dealer „mitgeführte Betäubungsmittel am Körper verstecken“. Im Einzelfall könne es deshalb erforderlich sein, dass sich Personen bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen. Es sei aber nicht richtig, dass sich alle kontrollierten Personen nackt ausziehen mussten. Im Einzelfall sei wohl ein Hund bei der Suche auf ein Bett gesprungen.
Während die drei Gambier sich mit den Mitgliedern des AK Asyl beraten, tritt nur ein paar Gehminuten entfernt der Backnanger Gemeindeart zusammen. Die Tagesordnung steht seit längerem, und wie es der Zufall so will beginnt die Sitzung mit einem Bericht des Chefs der Backnanger Polizei, Jürgen Hamm. Er war auch der Einsatzleiter während der Razzia. Hamm, der eigentlich die Kriminalstatistik der Stadt erläutern soll, kommt gar nicht umhin, auch auf die Polizeiaktion einzugehen. Er spricht von einer „großen Außenwirkung“. Im Umfeld des Heims sei es immer wieder zu Straftaten gekommen: Drogenhandel, Einbrüche, Diebstähle, Verstöße gegen das Ausländerrecht. Hamm spricht von „massiven Beschwerden“ der Anwohner und der benachbarten Waldorfschule. „Wir mussten tätig werden.“ Die Beamten hätten nur alleinstehende Männer „ohne Traumatisierung“ kontrolliert. Es seien nur jene Zimmer betreten worden, in denen „die wohnen, die für Straftaten oder Ordnungsstörungen in Frage kommen“.
Bachert: „0,4 Gramm pro Beamten – ein Witz“
Der Grünen-Stadtrat Eric Bachert sagt, es sei „ein Witz“, dass 250 Polizisten nur 100 Gramm Cannabis und 1300 Euro sichergestellt hätten – „0,4 Gramm und 5,20 Euro pro Beamten“. Der „Krieg gegen die Drogen“ sei verloren, so Bachert, der zugibt, was in der Stadt eh fast jeder weiß: „Ich war von 1979 bis 1999 Drogenkonsument, ich kenne die Szene.“ Die große Politik müsse umdenken, „Prohibition hat noch nie gewirkt“. Bachert sagt: „Ich will Kriegsflüchtlinge weiter willkommen heißen.“ Hamm antwortet, Drogenhandel sei strafbar, „wir müssen handeln“. Er bezeichnet die Lage des Flüchtlingsheims unmittelbar neben der Schule und dem Waldorfkindergarten als „suboptimal“. Das Gebäude, in dem rund 200 Asylbewerber wohnen, sei zu groß. Es sei auch nicht so gut, dass Alleinstehende und Familien unter einem Dach leben müssen.
Der Backnanger Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) erklärt, dass der Einsatz der Polizei „richtig und angemessen“ gewesen sei. In der Unterkunft seien Straftaten verabredet und vorbereitet worden. „Dagegen mussten wir mit aller Entschiedenheit vorgehen“ – im Interesse der Allgemeinheit und im Interesse der unschuldigen Flüchtlinge. Wenn über das Thema Flüchtlinge debattiert werde, dann komme ihm, Nopper, oft ein Spruch des Leiters der Backnanger Waldorfschule in den Kopf: „Je weiter weg, desto verklärter der Blick.“ Die Große Politik müsse mehr Realitätssinn an den Tag legen.
Facebook: „Für jeden Beamten einen Joint“
Witzige und nicht ganz erst gemeinte Kommentare, nüchterne und hitzige Kritik, Verständnis für die Polizei und für die Asylbewerber – im sozialen Netzwerk Facebook wird der Großeinsatz der Polizei kontrovers diskutiert. Ein User schreibt augenzwinkernd, dass sich die Razzia doch gelohnt habe: 250 Beamte hätten 100 Gramm Haschisch gefunden, das reiche für jeden Polizisten für einen Joint. Ein anderer schreibt, dieser Einsatz in Zeiten der Debatte über die Freigabe von Cannabis sei „lächerlich“. Asylbewerber seien zum jahrelangen Rumsitzen verdammt, „hier liegt die Ursache des Problems“.
Er wolle nicht bestreiten, schreibt ein anderer, dass die Aktion den ein oder anderen unschuldigen Asylbewerber getroffen habe, „aber statt Hass oder Angst zu haben vor der Polizei“, sollten die unschuldigen Flüchtlinge ihren schuldigen Kollegen auf die Finger klopfen. In einem weiteren Facebook-Kommentar heißt es: Heutzutage finde man unter Jugendlichen kaum einen, der nicht kiffe.
„Alle hacken auf der Polizei herum“
„Ich finde es ekelhaft, wie die Flüchtlinge alle über einen Kamm geschoren werden“, schreibt einer, und weiter: „Es gibt nun mal Arschlöcher auf der Welt. Überall. Und die Wahrscheinlichkeit, dass bei 100 Flüchtlingen auch ein Arschloch dabei ist, dürfte wohl ziemlich groß sein.“
Viel diskutiert wird die Frage, ob es notwendig oder zulässig ist, unbescholtene Menschen zu zwingen, „die Unterhose runter zu lassen“, wie ein User schreibt. Eine „strafbare Menge“ Drogen passe eh nicht in die Unterhose. Und überhaupt: warum sollte jemand „beim Schlafen in den eigenen vier Wänden Gras in seiner Unterhose verstecken?“ In einem weiteren Kommentar wird indes kritisiert, dass alle auf der Polizei herumhackten.
Generalverdacht – Martin Tschepe kommentiert
Man stelle sich diese Szene vor: In einem Hochhaus, in dem mehr als 200 Menschen leben, sind auch fünf mutmaßliche Drogendealer gemeldet. Was tut die Polizei? Sie umstellt das gesamte Gebäude in einer Nacht- und Nebelaktion mit fast drei Hundertschaften. Und alle Männer werden morgens überfallartig von bewaffneten Uniformierten aus dem Schlaf gerissen. Was wäre wohl los in dieser Stadt? Wie würde so eine Aktion der Polizei bewertet?
Die Razzia im Flüchtlingsheim in Backnang hat alle dort lebenden alleinstehenden Männer unter Generalverdacht gestellt. Das ist – vorsichtig formuliert – nicht unproblematisch. Ist die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar? Können traumatisierte Flüchtlinge in Deutschland angstfrei leben? Die Bewohner in Backnang würden jetzt sagen: Nein.
Keine Frage, die Polizei hat einen schweren Stand. Sie muss Regelungen umsetzen, die jetzt selbst von führenden CDU-Politikern in Frage gestellt werden. Die Diskussion über die Drogenfreigabe hat das Unrechtsbewusstsein im Land verändert. Gab es also tatsächlich keine Alternative zu der Großrazzia? Die Namen der Tatverdächtigen und die Belegung der Zimmer im Heim waren doch bekannt. Wäre es nicht möglich gewesen, die Verdächtigen gezielt festzunehmen?