Nach dem Krieg war man erfinderisch: Die Ruine des Neuen Schlosses beherbergte im Keller bis 1958 die Siechenbierstuben. Bernd Gehweiler, Sohn des Wirtspaars, wohnte dort unten. Mit 75 Jahren kehrt er jetzt zurück – zu einer sehr emotionalen Besichtigung.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Durch Luftangriffe am 21. Februar und am 2. März 1944 ist das Neue Schloss, eines der bedeutsamsten Baudenkmäler in Stuttgart, im Zweiten Weltkrieg nahezu völlig zerstört worden. Die Außenfassade hatte zwar zu Teilen den Bomben widerstanden, doch der von 1746 bis 1807 erbaute Spätbarockbau bestand nach dem Angriff nur noch aus einer leeren Hülle und drohte einzustürzen.

 

Unter der Ruine blieben einzig die weitläufigen Katakomben im Originalzustand erhalten. Im Land entbrannte ein Streit, was mit der einstigen Pracht von Herzögen und Königen geschehen sollte. Abriss oder Wiederaufbau? Viele plädierten für etwas ganz Neues. Die Demokratie, argumentieren sie, bräuchte nicht die Repräsentation einer Monarchie. Es gab Pläne, an diesem Ort ein Mineralbad, ein Kurhotel oder ein Kaufhaus neu zu bauen – oder den Landtag. Die beiden Stuttgarter Tageszeitungen sammelten Spenden für die Schlossrettung.

Die Entscheidung fiel erst im April 1955. Mit nur einer Stimme Mehrheit lehnte die Mehrheit im Landtag einen Plenarsaal im Schloss ab, das man aber mit Repräsentationsräumen für die Landesregierung rekonstruieren wollte. Stattdessen sollte das Parlament im Akademiegarten einen Neubau erhalten.

Die Zukunft der Ruine war also über Jahre hinweg unklar, das kam dem Stuttgarter Gastronomenpaar Otto und Thea Gehweiler entgegen. Die beiden durften mit ihren 1950 eröffneten Siechenbierstuben im Kellergewölbe im Westflügel des Neuen Schlosses bis 1958 bleiben – bis der Wiederaufbau begann und alle das Areal verlassen mussten.

Seit 65 Jahren war Bernd Gehweiler nicht mehr hier unten

Die Gehweilers betrieben nicht nur die Gaststätte mit 400 Plätzen im Keller und weiteren 400 Plätzen oben im Freien an der Planie, sie wohnten auch an ihrem Arbeitsplatz, also in den meist feuchten Katakomben. Ihr 1948 geborener Sohn Bernd Gehweiler ist hier unten aufgewachsen. Jetzt ist der einstige Junior der Bierstuben, der selbst Gastronom wurde und später ein Restaurant in Untertürkheim führte, 75 Jahre alt. Unserer Redaktion hat er zahlreiche Fotos von dem Lokal seiner Eltern aus den 50ern geschickt. Das Finanzministerium, Hausherr des Neuen Schlosses, machte es nun möglich, dass Gehweiler die sonst meist geschlossenen Kellerräume besichtigen durfte.

An den Fenstern am Boden der Schlossfassade ist der Sohn des letzten Wirtspaars vom Neuen Schloss oft mit seiner Frau Dietlinde Gehweiler vorbeigelaufen. Doch unten im Keller, wo er als Kind gewohnt hat, war er seit 65 Jahren nicht mehr.

Der Hausmeister öffnet nun die Tür zur Treppe nach unten. Dietlinde Gehweiler greift nach der Hand ihres Mannes, denn sie weiß, das wird für ihn nun eine höchst emotionale Besichtigung. Oft hat er sich in Gedanken ausgemalt, wie dieser Ort früher für ihn als Kind ausgesehen hat. Stimmen die Erinnerungen mit dem überein, was sich heute hier befindet?

„Als Kind war ich immer krank“, erzählt er, „die feuchten Wände sorgten für Schimmel.“ Es dauerte, bis er das Fenster weit oben entdeckte, das etwas Licht ins Schlafzimmer der Gehweilers schickte. Die Eltern und der Sohn schliefen in einem Zimmer. Die Eltern hätten nie Zeit für ihn gehabt. Von morgens bis spätabends waren sie mit den Siechenbierstuben beschäftigt. Bei schönem Wetter gab es im Freien eine große Außengastro – die Küche befand sich im Keller, die Speisen mussten mit dem Aufzug nach oben befördert werden. Der Aufzug wurde mit Muskelkraft nach oben gezogen. Beim Rundgang hat Gehweiler immer wieder feuchte Augen.

Die alten Geschichten melden sich zurück

Der kleine Bernd spielte an einem kleinen Teich, der sich oben an der Planieseite befand. Heute gibt es ihn nicht mehr. Unten im Keller mit den hohen Wände atmet der ältere Bernd tief ein, genießt, was er sieht. Alte Geschichten melden sich zurück. An manchen Stellen ist er nicht sicher, was sich damals dort befand. „Da ist so viel zugebaut“, sagt Gehweiler. Doch die Gasträume im Keller entdeckt er schnell. Sie stehen heute leer. An einer Wand hängt noch eine vergilbte alte Betriebsanweisung für eine Batterie.

Mit Siechtum hatte das Lokal nichts zu tun. Ihren Namen verdankten die Bierstuben einer Nürnberger Brauerei, die ihr Bier wiederum nach dem Berliner Wirt Franz Siechen benannt hatte, weil das unter diesem Namen so gut lief. Schon 1948 bis 1950 hatte es in den Katakomben des Neuen Schlosses ein Lokal gegeben, das ein Gastronom mit dem Namen Fröschle betrieben habe, wie sich der 75-Jährige erinnert. Doch der Vorgänger hörte nach zwei Jahren auf. Nun waren die Gehweilers am Zug. „Meine Mutter wollte nie, dass wir Kinder in der Ruine spielen“, erzählt er, „es konnten Steine herunterfallen.“ Das Gelände sei zwar abgesperrt gewesen, doch trotzdem habe man dort immer wieder Menschen angetroffen.

Der ständige Husten in den feuchten Räumen plagte alle sehr. Trotzdem waren seine Eltern und das gesamte Personal mit Eifer bei der Sache. Nach dem Krieg wuchs die Sehnsucht nach Normalität. Man wollte endlich das Leben genießen. Zum Bier aus Nürnberg wurde schwäbische Kost serviert. Es war meist voll im Keller oder bei schönem Wetter im Freien mit Blick aufs Alte Schloss.

Heute sorgt moderne Technik in den Katakomben für gute Luft. Ein Teil der einstigen Siechenbierstuben beherbergt noch die über 400 Jahre alte Sammlung römischer Steindenkmäler, aber auch Werkzeuge und Artefakte aus der Steinzeit werden hier gelagert. Für die Öffentlichkeit ist das Römische Lapidarium nicht mehr zugänglich – es wird gerade verpackt und zieht in ein Depot um. „Da das Neue Schloss auf Wunsch der Landesregierung zum Bürgerschloss umgebaut wird, stehen uns diese Kellerräume bald nicht mehr zur Verfügung“, sagt Museumssprecherin Ulrike Reimann. Leider sei es nicht gelungen, „eine Ersatzspielstätte in Landesliegenschaften“ zu finden.

Am 21. März 1964 ist das Neue Schloss wiedereröffnet worden

Als 1958 der Wiederaufbau des Neuen Schlosses begann, bezog die Familie Gehweiler eine „normale“ Stadtwohnung. Die Eltern betrieben noch jahrelang die Kantine der großen Baustelle. Am 21. März 1964 ist die Neueröffnung des Barockbaus gefeiert worden. 19 Jahre nach dem Krieg war die einstige Pracht wiederhergestellt, die Stadt hat mit dem Schlossplatz und dem Schloss wieder ihren alten Mittelpunkt.

„Mit Wehmut“ hat Bernd Gehweiler den geschichtsträchtigen Ort seiner Kindheit besucht. Er habe sich „zusammengerissen, damit ich von den Emotionen nicht übermannt werde“, sagt er hinterher. Seine Eltern, die später eine Gastronomie im Schwarzwald übernahmen, wären bestimmt stolz, dass sich ihr einziger Sohn heute so gern und liebevoll an ihre Zeit und ihre harte Arbeit im Schlosskeller zurückerinnert und sie noch immer rühmt. Die Familie Gehweiler ist ein Teil der Stadtgeschichte.