Heute hier, morgen – fort. FDP-Chef Christian Lindner trainiert bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für das weit wichtigere Ziel: den Wiedereinzug in den Bundestag. Sein Spielfeld sind die Marktplätze und Betriebe – und die Echokammern der sozialen Medien im Internet.

Aachen - Seine Leute vor Ort haben das Wetterradar im Blick, sie mahnen zur Eile, gleich soll es regnen. FDP-Chef Christian Lindner sputet sich deshalb auf seinem Weg zum Aachener Rathausplatz, am Dom vorbei. Wäre doch schade, wenn der Termin ins Wasser fiele. Wo doch trotz schlechten Wetters so viele gekommen sind, um den Mann, der auf 1800 Schwarz-Weiß-Plakatwänden in Nordrhein-Westfalen um Stimmen wirbt, mal live und in Farbe zu sehen. Aber dann legt er doch noch einen Zwischenstopp ein. Ein Student spricht ihn an, bittet um ein Selfie. Er habe Lindner bei einem Vortrag an der Hochschule in Aachen gesehen, sei begeistert gewesen, sagt er. Mögen die Wolken da noch so unheilvoll die Gassen Aachens beschatten, so viel Fanpflege muss sein. Ein kurzes Fotolächeln, die Köpfe nah beieinander, „Dankeschön“, „Bitteschön“. Und weiter geht’s im Endlosmarathon an Terminen, den Lindner noch vor sich hat, erst als Spitzenmann bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, dann als Zugpferd bei der für die FDP alles entscheidenden Bundestagswahl im September.

 

Von diesem 38-Jährigen hängt also das Schicksal einer Partei ab, die über Jahrzehnte das Land mit geprägt hat und die seit ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 ums Überleben kämpft. Keine geringe Last, die der drahtige, rotblonde Mann mit dem akkurat gestutzten Dreitagebart zu schultern hat. Immerhin hat er es schon geschafft, dass es die FDP wieder wagen kann, um die Laufkundschaft einer Fußgängerzone zu werben, ohne gegen hämische Kommentare und Protestgebrüll ankämpfen zu müssen. Aber das reicht nicht. Die FDP muss zurück in den Bundestag. Sonst war es das wohl. Dem hat sich alles unterzuordnen. Wenn irgend möglich auch das Wetter.

Dann aber öffnet der Himmel über Aachen seine Schleusen.

Fans in gelben Ponchos

Lindner hat eben erst die Bühne betreten, als es aus Kübeln zu schütten beginnt. „Jetzt entscheidet es sich“, ruft er, jetzt zeige sich, wer wirklich zur liberalen Sache stehe, wer sich zu den „Gusseisernen“ zählen dürfe. 500 Zuhörer drängen sich vor ihm, sie ertragen das Geprassel unter Schirmen und gelben Plastikponchos, die emsige Helfer verteilen. Die meisten bleiben. „Ich würde ja gerne mit Ihnen zusammen nass werden“, sagt Lindner, „aber leider ist das hier oben überdacht.“ Gelächter, Applaus. Eine knappe halbe Stunde redet er, etwas kürzer als sonst. Trägt die Klassiker seiner Kampagne vor, nichts, was nach vielen Wochen Wahlkampf noch überraschen könnte. Ein wütendes Wehklagen über Staurekorde, Wirtschafts-Sabotage und Bildungsbankrott, alles angeblich verschuldet von einer rot-grünen Landesregierung, die bei der Wahl am 14. Mai ohne jede Inspiration und ohne jede Idee in die nächste Wahlperiode gleichsam hinüberdämmern wolle, begleitet von einer CDU, die nur allzu gerne selbst der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu Diensten wäre.

„Entfesselt“ müsse das Land deshalb werden, die Kreativität der Menschen im Mittelpunkt stehen. Was halt ein Liberaler so sagt. Gut vorgetragen, ohne Frage, aber nichts, was vor Originalität triefen würde. Und trotzdem scharen sich viele nach der Rede in ihren gelben Ponchos um ihn wie um einen Pop-Star. Eine junge Frau schwärmt vom neuen Schwung, der mit Lindner in die Politik gekommen sei. Nicht, dass sie sonst viel mit der FDP zu tun hätte, aber der Typ begeistere sie, sehe ja nun auch ziemlich gut aus, „nicht so dick wie viele andere“.

Die Echokammern der Partei

Lindner spult ein enormes Pensum ab. Über 200 Wahlkampftermine waren es bereits. Er trainiert, um das auszuhalten, mindestens 30 Minuten täglich. Zwei Wohnungen hat er, eine an der Spree, eine am Rhein. In Berlin hält er sich am Rudergerät fit, in Düsseldorf am Crosstrainer. Zurzeit muss er allerdings pausieren, hat sich verletzt bei seiner großen Leidenschaft: dem Motorsport. Auf einer Kartbahn hat sich der Vollgastyp mit ein paar Kumpels gemessen. Und weil die ziemlich professionell unterwegs waren, wollte er nicht klein bei geben. Die Folge der Rempeleien: eine Rippenprellung. Man merkt ihm das nicht an. Es gibt ziemlich gute Schmerzmittel heutzutage.

Lindner sucht den direkten Kontakt zu den Menschen, wo und wann immer möglich. Mittags hat er an diesem Tag einen Betriebskindergarten und ein Pharma-Unternehmen in Mohnheim besucht. Er hat dort lange mit Erzieherinnen geplaudert und dabei fast die Unternehmensspitze vergessen. Aber vielleicht war das ja Teil der Show, wer weiß das bei solchen Profis schon. Jedenfalls kann Lindner im Handumdrehen Nähe simulieren, wo andere noch mühsam um Worte ringen. Nur der Ziege im Betriebskindergarten bleibt er dann doch lieber fern. Die hat Läuse.

Über 93000 Follower

Aber launige Marktplatzreden, Betriebsbesuche und Großflächenplakate allein können die zwölf Prozent nicht erklären, die jüngst Forsa für die FDP in NRW ausgeworfen hat. Wer nach weiteren Gründen sucht, muss sich im weltweiten Netz umtun. Dort, in den Echokammern der sogenannten sozialen Medien, wird nachvollziehbar, weshalb Lindner vor allem bei vielen Jüngeren derzeit gute Karten hat. Die FDP nutzt seine Popularität, sein Redetalent und seine Entertainer-Qualitäten, um im Internet eine beachtliche Reichweite aufzubauen. Über 93000 Menschen folgen Lindner auf Twitter, über 120000 haben seinen Facebook-Auftritt abonniert. Er erreicht damit weit mehr als doppelt so viele Menschen mit einem Smartphone-Klick wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Von CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet oder der Grünen Bildungsministerin Sylvia Löhrmann ganz zu schweigen.

Die Landespartei hat außerdem vielen der rund 15000 Mitglieder in so genannten „Skill-Camps“ beigebracht, wie man aus der Nutzung Sozialer Medien politisch Kapital schlagen kann. Zahlreiche weitgehend unbekannte FDP-Anhänger, die Lindner folgen, haben sich so ihrerseits ein stattliches Online-Publikum erarbeitet, mit dem sie so manchen Platzhirsch der Volksparteien alt aussehen lassen. Lindners gesamte Kampagne setzt auf diese virtuellen Schneeballeffekte. Ein Smartphone-Bild, ein kurzes Video vom Auftritt in Aachen erreicht in ein paar Millisekunden mehrere zehntausend Menschen. Mit diesem beständigen FDP-Grundrauschen im Netz kontert er die stärkere Präsenz der Regierenden in den traditionellen Medien. Allein der Werbespot, der Lindner in Schwarz-Weiß-Portraits als eine Art modernen Widerstandskämpfer im Dienste der Freiheit inszeniert, wurde auf Facebook bisher 1,5 Millionen Mal geteilt, rund 40 mal so oft wie der zentrale Wahlkampfspot der Grünen.

Das alles ist aber nur das Vorspiel zum großen Finale im September. Lindner nannte Nordrhein-Westfalen, wo er 2012 in schier aussichtloser Lage mit 8,6 Prozent den Einzug in den Landtag geschafft hatte, stets sein „Labor“. Hier entwickelte er das Rezept für die Rückkehr in den Bundestag. Dass er hier wie dort kandidiert, nimmt ihm anscheinend keiner übel. Die Menschen wissen seit Monaten, dass sie ihn los sind, wenn sie ihm zum Erfolg verhelfen. Mit einem guten Ergebnis in NRW ist jedoch noch nichts gewonnen, er weiß das. Im Bund liegt seine Partei bei vergleichsweise mageren sechs Prozent. Allerdings hat der Bundestagswahlkampf ja noch gar nicht begonnen. Nicht auf den Marktplätzen, und auch nicht in den Echokammern des Internets. Lindner trainiert dafür schon mal hart in Nordrhein-Westfalen. Täglich.