OB von Tübingen und Rottenburg im Gespräch Flüchtlinge, Rechtsruck, Geld – darüber streiten Palmer und Neher

Nicht immer einer Meinung: Der Tübinger OB Boris Palmer (links) und Stephan Neher, Rathauschef in Rottenburg, diskutieren über die deutsche Asylpolitik. Foto: Horst Haas

Tübingens OB Boris Palmer und der Rottenburger Rathauschef Stephan Neher vertreten in der Migrationspolitik zum Teil konträre Positionen. Ein Gespräch über Kapazitätsgrenzen, die AfD – und wie das Bürgergeld Flüchtlinge vom Arbeiten abhält.

Baden-Württemberg: Florian Dürr (fid)

Nur wenige Kilometer trennen den Tübinger RathauschefBoris Palmer (parteilos) und seinen Rottenburger Amtskollegen Stephan Neher (CDU). In der Asylpolitik liegen sie teilweise auseinander.

 

Herr Palmer, Herr Neher, in ganz Deutschland klagen Bürgermeister, die Asylpolitik der Bundesregierung überlaste ihre Kommune. Ist Merkels „Wir schaffen das“ endgültig Geschichte?

Neher: Wir schaffen das unterschreibe ich bis zum heutigen Tag. Zumindest wir in Rottenburg schaffen es sehr gut.

Palmer steht auf und holt etwas. Neher: Hat Merkel dir geschrieben? Palmer: Mir schreibt der Präsident des Deutschen Städtetages, Markus Lewe (CDU), der mich gefragt hat, ob ich ihm mein Buch („Wir können nicht allen helfen“) schicken könnte, weil es vergriffen sei: „Vielen Dank, dein Buch ist heute noch genauso aktuell wie bei seiner Veröffentlichung 2017. Denn auch heute befinden wir uns in einer Situation, die die Städte bei der Unterbringung, Versorgung und Integration von Geflüchteten zunehmend an ihre Grenzen bringt.“ Er hat recht. Man kann es immer noch schaffen, aber es hat seinen Preis: Die Integrationsleistungen werden immer schlechter, Ressourcen stehen nicht mehr zur Verfügung – vom Kitaplatz bis zur Wohnung. Neher: Diese Aussage ist sehr gefährlich. Zumindest für Rottenburg trifft das nicht zu.

Wie hat Rottenburg das geschafft?

Neher: Wir haben zum Beispiel in der Kinderbetreuung nicht rein nach wirtschaftlichen Zahlen geschaut, deshalb gibt es heute in jeder Ortschaft einen Kindergarten, so gut wie in jeder Ortschaft eine Grundschule. Dadurch führt das in der jetzigen Situation nicht zu Konkurrenzverhältnissen: Jeder kriegt sein Kindergartenplatz, jeder kriegt sein Schulplatz. Man muss Prioritäten setzen. Palmer: Dass Rottenburg das Paradies auf Erden ist, liegt schon daran, dass sie eine Bischofsstadt sind. Aber der Vorwurf gegenüber anderen Kommunen ist falsch. Bevor man sagt, dass der Hinweis auf eine Konkurrenz gefährlich sei, muss man erst einmal klären, ob er richtig ist. In Baden-Württemberg fehlen nach einer aktuellen Studie 60 000 Kitaplätze. Und wenn dann das Kind eines Geflüchteten einen Platz bekommt, hat ihn jemand anders, der vorher schon im Land war, nicht. Also es gibt diese Konkurrenz und deswegen halte ich es für gefährlich, das den Leuten zu verschweigen.

Herr Neher, Sie weigern sich, von Überlastung zu sprechen und fordern das auch von anderen Bürgermeistern. Hat Herr Palmer die falsche Einstellung?

Neher: Ich bin überzeugt, dass er es locker schaffen würde. Vor allem, wenn ich sehe, wie viel Zeit er für Kommentare auf Facebook und Instagram hat. Wir dürfen als Politiker nicht immer davon reden, was wir alles nicht mehr schaffen. Wir spüren natürlich den Wohnungsdruck in der gesamten Region Tübingen, das ist auch in Rottenburg nicht anders. Aber wir waren schon erstaunt, wie viele freie Wohnungen und Häuser hier zur Verfügung stehen. Palmer: Wir haben in Tübingen ungefähr 150 Wohnungen angemietet, aber wir sehen keine weiteren Angebote. Jetzt geht es auch in der Nähe von Tübingen los mit Großstandorten in Containern und Turnhallen. Deswegen sage ich wie der Bundeskanzler oder der Ministerpräsident: Die Zahlen müssen runter.

Inzwischen benennen alle demokratischen Parteien die Probleme deutlich. Brauchen wir eine härtere Migrationspolitik?

Neher: Wenn man die vorhandenen Gesetze anwendet, würde das reichen. Es ist keine Kapazitätsfrage, sondern eher eine politische. Menschenrechte kosten Geld. Ich halte nichts von irgendwelchen Außengrenzen-Gefängnislagern. Palmer: Da stimme ich nicht zu. Denn das Ziel, die Berechtigten von den Unberechtigten zu trennen, gelingt im bestehenden System ja überhaupt nicht. Weil jeder, der es nach Deutschland schafft, unter normalen Umständen bleibt, Abschiebungen sind seltene Ausnahmen. Die neue gemeinsame europäische Migrationspolitik ist dringend notwendig. Nur wenn an den europäischen Außengrenzen entschieden wird, ob die Person einen Fluchtgrund hat oder nicht, besteht die Chance, dass diejenigen, die keinen Fluchtgrund haben, wieder zurückgehen.

Bund und Länder haben sich auf schnellere Asylverfahren, Abschiebungen, Leistungskürzungen für Asylbewerber, Grenzkontrollen geeinigt. Kritiker sagen, uns kommt da Menschlichkeit abhanden. Kann man das Deutschland vorwerfen?

Neher: Derzeit sind Menschenrechte, Demokratie und Freiheitsrechte ja kein Exportschlager mehr. Wir müssen diese Werte verteidigen. Palmer: Humanität kann nicht gleichgesetzt werden mit freiem Zugang nach Deutschland. Wenn ich eine Promille der Bevölkerung integrieren muss, ist das kein Problem. Wenn plötzlich zehn Prozent zu integrieren sind, dann gehen in der Aufnahmegesellschaft nach und nach Akzeptanz und am Ende sogar die eigenen Werte verloren: Der Rechtsruck in Europa ist ganz wesentlich durch eine Reaktion von immer mehr Menschen auf die Migrationspolitik zu erklären.

Herr Neher, Sie argumentieren, dass man mit den aktuellen Migrationsdebatten die AfD stärkt.

Neher: Davon bin ich fest überzeugt. Wenn man das Thema immer stärker als Überforderungsthema diskutiert und der Wähler den Eindruck hat, der Kanzler ist überfordert, der Ministerpräsident ist überfordert und der OB auch, dann muss ich nach einer Alternative schauen, und die heißt in dem Fall dann AfD. Palmer: Wenn man die Konsequenzen vertuscht, merken die Leute, dass man sie nicht ernst nimmt.

Deutschland ist aufgrund des Fachkräftemangels auf Zuwanderung angewiesen. Etwa 55 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge von 2015 sind heute erwerbstätig. Herr Neher spricht von einer Erfolgsgeschichte.

Palmer: Das scheint mir nach so einem langen Zeitraum entschieden zu wenig. Ich sehe die Hürden bei uns in der Bürokratie, aber auch im mangelnden Anreiz zu arbeiten, weil die Grundversorgung mit Bürgergeld zu gut ist. Neher: Da sind wir unterschiedlicher Auffassung. Die Hälfte in Arbeit ist schon mal ganz gut. Aber ich frage mich auch, warum die Bundesregierung nicht in der Lage ist, das Bürgergeld rückgängig zu machen. Die Arbeitsbereitschaft bei den Ukrainern ist dadurch gleich null.

Knapp 50 Milliarden Euro betragen die in Deutschland erwarteten Kosten für den Bereich Flucht und Migration. Ist das gut investiertes Geld?

Palmer: In den vergangenen Jahren haben wir all diese Kosten durch das Wachstum der Einnahmen auffangen können. Da steht uns eine Wende bevor. Da musst du nun offensiv sagen: Ich will die Migrationskosten bezahlen, aber dafür zahlst du mehr Steuern, und das wird teurer und das und das gibt’s nicht mehr. Die Haushaltsbeschlüsse der Ampel sind nur ein Vorgeschmack. Neher: Die Geschichte hat gezeigt, dass es immer eine gewinnbringende Situation war. Wir brauchen aber eine stärkere Zuwanderung in den Arbeitsmarkt nach Qualifikationsmerkmalen – und nicht rein durch Zufall. Palmer: Auf einem Zeitraum von zehn bis 15 Jahren sind Geflüchtete kein „Geschäft“, sondern kosten netto volkswirtschaftlich Geld. Wettbewerbsfähigkeit ist für Deutschland im Wesentlichen aber durch das Bildungssystem bestimmt. Und da werden die Studien von Mal zu Mal schlechter. Das ist auch ein Effekt einer ungesteuerten Migration. Neher: Da würde ich widersprechen. Diese Studien lese ich schon gar nicht mehr, weil die so was von schlecht gemacht sind. Eine so gute, junge Generation wie heute hatten wir noch nie.

Auf was müssen sich die Bürger künftig einstellen?

Palmer: Da kommen mehr Konflikte auf uns zu. Ich setze aber auf die gemeinsame europäische Asylpolitik und halte die Vorschläge für Grenzverfahren und die Migrationsabkommen für die Rücknahme von Geflüchteten für den Schlüssel zum Erfolg. Das wird trotzdem nicht schnell besser, aber der Druck vor Ort wird zunehmend größer. Neher: Ich bin kein Fan davon, die Asylverfahren an den Außengrenzen zu machen oder sogar in den Herkunftsländern. Das entscheidende wird sein, ob wir es hinbekommen, der Gesellschaft stärker zu vermitteln, dass es einen Mehrwert für uns hat. Es dürfen Leute hier ankommen, die der Gesellschaft auch was zurückgeben. Palmer: Niemand hat was gegen Bäckergesellen oder gegen Krankenschwestern – völlig egal, woher die kommen. Neher: Das Klinikum in Tübingen könnte man sonst wahrscheinlich gar nicht betreiben. Palmer: Ohne Migration könnten wir es zumachen.

Ein Ex-Grüner und einer, der bei der CDU aus der Reihe tanzt

Boris Palmer
Der Tübinger Oberbürgermeister ist bei den Grünen über viele Jahre mit seinen Positionen in der Migrationspolitik angeeckt. Im Mai dieses Jahres nach einem Eklat um einen Judenstern-Vergleich folgte der Austritt. Seitdem ist der 51-Jährige parteilos. Kürzlich gab Palmer bekannt, bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr als Kandidat der Freien Wähler Vereinigung (FWV) um den Einzug in den Tübinger Kreistag kämpfen zu wollen. Seit 2007 hat der Ex-Grüne das Sagen im Rathaus der Universitätsstadt. Derzeit läuft seine dritte Amtszeit (bis 2030).

Stephan Neher
Bei den aktuellen Forderungen der CDU in der Asylpolitik fragt sich manch einer, ob der Rottenburger Rathauschef mit seinen optimistischen Äußerungen noch in der richtigen Partei ist. Er selbst sieht keinen Grund für einen Wechsel – weiß aber, dass er bei den Parteikollegen eher nicht auf Zuspruch stößt, wenn er weiterhin Merkels „Wir schaffen das“ betont. Neher ist seit 2008 Oberbürgermeister der Bischofsstadt. Im März kommenden Jahres finden die nächsten OB-Wahlen statt. Der 50-Jährige gab bereits bekannt, für eine dritte Amtszeit kandidieren zu wollen.

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