Die Piraten suchen auf dem Parteitag in Offenbach ihren Kurs: Sie wollen liberal und sozial sein, aber vor allem basisdemokratisch.  

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Offenbach - Angelika Beer kennt sich aus mit jungen, aufstrebenden Parteien. Sie gründete die Grünen mit, zwischen 2002 und 2004 war sie sogar Parteichefin. Dann stieg sie aus. "Wenn es bei den deutschen Grünen nur noch um das Erringen von Macht geht", erklärte sie in ihrer Abschiedsrede im März 2009, dann sei das nicht mehr ihre Partei.

 

Am Sonntag sitzt Beer in der Offenbacher Stadthalle an einem langen Tisch, der voll gestellt ist mit Laptops und Kabeln. Um sie herum hocken überwiegend junge Männer in schwarzen T-Shirts, dieauf ihre Computerbildschirme starren. Beer sieht hier, auf dem Parteitag der Piraten, ihre neue politische Heimat. "Die Piraten sind undogmatisch, sie sind offen", sagt die 54-Jährige. "Alle anderen Parteien sagen: Hauptsache an die Macht! Wir sagen: Wir wollen Transparenz!"

Das Grundgesetz soll geändert werden

Die Offenheit der Piraten hat ihren Charme. Aber spätestens seit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus wollen die Bürger wissen, wofür die 2006 gegründete Partei steht. Selbst aus der FDP werde er angesprochen, "dass wir die neue liberale Hoffnung in Deutschland sind", triumphiert Parteichef Sebastian Nerz, der selbst einige Zeit in der CDU war, in seiner kurzen Eröffnungsrede am Samstag. Aber am Ende des Parteitags ist klar, dass die Piraten diesem Liberalismus einen kräftigen sozialen Anstrich geben wollen.

Mit Zweidrittelmehrheit, wenn auch einer hauchdünnen, votiert der Parteitag für ein "bedingungsloses Grundeinkommen". Jedem Bürger soll der Staat ein existenzsicherndes Einkommen zahlen - "ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zwang zu Arbeit oder anderen Gegenleistungen". Wie das genau aussehen könnte, wie das bezahlt werden soll, wie sich das mit den existierenden sozialen Sicherungssystemen vertragen soll, dazu können die Piraten noch nichts sagen. Sie schlagen eine Enquetekommission im Bundestag vor, "deren Ziel die konkrete Ausarbeitung und Berechnung neuer sowie die Bewertung bestehender Grundeinkommensmodelle sein soll". Daneben soll das Grundgesetz geändert werden, damit künftig Volksabstimmungen über Bundesgesetze möglich werden, auch über die Idee eines "bedingungslosen Grundeinkommens".

Reden darf jeder

"Keine Debatte reißt uns so von den Stühlen wie diese Debatte", ruft ein junger Mann mit orangefarbenem Kopftuch in das Mikrofon vor der Bühne, wo sich alle Diskutanten artig aufstellen, um längstens eine Minute etwas sagen zu dürfen. Reden darf jeder, der in die Halle gekommen ist. Abstimmen dürfen alle Parteimitglieder, die vor Ort sind. Rund 1300 sind gekommen, ein gewaltiger Zuspruch in einer Partei mit knapp 19.000 Mitgliedern.

"Ich bin Pirat geworden, weil ich Visionen habe", sagt ein Befürworter des Grundeinkommens. Vor allem aus den süddeutschen Landesverbänden kommt Widerspruch. Eine junge Frau fragt in den Saal, wie sich das "bedingungslose Grundeinkommen" mit der Freiheitsidee verträgt. "Das ist ein Stück in Richtung Kommunismus", schimpft sie und erntet Buhrufe.

"In der Realpolitik angekommen"

"Wir sollten nicht Luftschlösser bauen", zürnt der baden-württembergische Landesvorsitzende André Martens. Er ist Betriebsratsvorsitzender in der Freiburger Halbleiterfirma Micronas. Wenn man so etwas beschließe, dann müsse man auch "ehrlich sein und sagen: ,Wem wollen wir denn das Geld dafür nehmen?"'

Auch Parteichef Nerz war gegen den Beschluss. "Eine Zweidrittelmehrheit muss man akzeptieren", sagt der Tübinger Student achselzuckend. Die Piraten seien "in der Realpolitik angekommen", behauptet Nerz trotzdem beharrlich. Aber seine Partei changiert munter zwischen realistischen und utopischen Positionen, zwischen linken, liberalen wie konservativen Ideen. Eine Begrenzung von Managergehältern wird abgelehnt, die Zwangsmitgliedschaften in Kammern wollen die Piraten beenden. Gleichzeitig votieren sie gegen Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher, die nicht arbeiten wollen. Die Piraten stehen für eine neue Drogenpolitik, die weiche Drogen wie Haschisch legalisieren würde.

"Wir dürfen uns nicht treiben lassen"

Ein schlüssiges Programm entsteht in Offenbach nicht. Selbst zu gewichtigen Themen wie Außenpolitik oder Steuern gibt es bis jetzt keine fundierten Beschlüsse. Wie lange die junge Partei diese Vielzahl inhaltlicher Leerstellen aushält? "Wir dürfen uns nicht treiben lassen", sagt Parteivize Bernd Schlömer. "Wir sind eine Mitmachpartei, wir orientieren uns nicht an den Medien oder an anderen Parteien."

Als Nächstes wird in Schleswig-Holstein gewählt, im Mai 2012. Zurzeit stehen die Piraten in Umfragen bei sieben Prozent. Die Ex-Grüne Beer kandidiert auf Platz sechs der Liste. Was in der Hauptstadt Berlin gelang, soll dann auch im hohen Norden klappen. "Wir wollen beweisen", sagt Beer, "dass es auch in einem Flächenland geht."