The Weeknd als Nachtklubbesitzer, Lily-Rose Depp als Popstar, und dazu der Mann, der sich „Euphoria“ ausgedacht hat. Wie provokant ist die neue Serie „The Idol“?
Der Intimitätskoordinator wird ins Klo gesperrt. Er hat beim Fotoshooting mit dem Popstar Jocelyn zu sehr darauf gepocht, dass auf keinen Fall Nippel gezeigt werden dürfen. Sideboobs und Underboobs seien okay, aber Brustwarzen nicht, hatte er gesagt. So stehe es im Vertrag. Weil aber Jocelyn gerade Lust hat, ihre Brüste zu zeigen, wird in dieser unverschämt luxuriösen Villa in Los Angeles halt ohne den Intimitätskoordinator weitergeknipst.
Die Eröffnungssequenz des Seriendramas „The Idol“, das zeitgleich zur US-Ausstrahlung in Deutschland bei Sky gestartet ist, ist genau so provokativ, wie man das von der neuen Serie Sam Levinsons erwartet hat, der 2019 mit „Euphoria“ für Aufregung gesorgt hat: In dem Coming-of-Age-Drama setzt er verstörend-intensiv aus Bruchstücken von Boulevardkomödien, Shakespeare-Tragödien und den „Schulmädchenreport“-Filmen ein grandioses Puzzle der Generation Z zusammen.
Bizarre Satire aufs Popbusiness
In „The Idol“ sind seine Protagonisten zwar älter – aber nicht unbedingt erwachsener, und weiterhin sind Sex, Drogen, Gewalt und psychische Störungen der Stoff, aus dem Levinsons Serienträume sind. Und nebenbei gelingt es ihm, die Eröffnungssequenz der Serie zum dramaturgischen Meisterwerk zu machen.
Da ist die Popsängerin Jocelyn (Lily-Rose Depp), die halb nackt und psychisch angeschlagen das Fotoshooting über sich ergehen lässt, im Sekundentakt ihren Gesichtsausdruck von unschuldig zu sexy zu geheimnisvoll zu emotional zu verletzlich wechselt, dabei aber nie so ganz die Leere in ihrem Blick verbergen kann. Da ist ihre Entourage aus Managern, Beratern und Assistenten, die darüber diskutieren, welches Image sie Jocelyn nach ihrem letzten Zusammenbruch verpassen wollen: „Sie ist jung, schön und kaputt“, schlägt Nikki (Jane Adams) vor, und als Xander (Troye Sivan) nachfragt: „Aber romantisieren wir damit nicht psychische Erkrankungen?“, antwortet Nikki nur: „Absolut! Psychische Störungen sind sexy!“ Und da ist das geleakte Foto, das – während gerade das Fotoshooting läuft – in den sozialen Medien auftaucht. Es zeigt ein Selfie von Jocelyns mit Sperma verschmiertem Gesicht. „Sie ist verdammt noch mal berühmt, sie kann so was nicht machen“, sagt Jocelyns Manager Chaim (Hank Azaria), der, weil ein weiterer Zusammenbruch seines Stars schlecht fürs Geschäft wäre, erst einmal ihr Telefon versteckt.
15 Minuten dauert die Eröffnungssequenz der Pilotepisode von „The Idol“. Sie ist ein kleines Kunstwerk innerhalb der Serie, ein virtuos inszeniertes Kammerspiel voller exzentrischer Charaktere, eine bizarre Satire auf das Popbusiness mit Verweisen auf Britney Spears, Madonna und Donna Summers, ein düsteres Königsdrama, eine überkandidelte Farce. Andere hätten aus den Ideen, die in dieser ersten Szene stecken, eine ganze Serie gemacht, für Sam Levinson ist dieses kuriose-fiese Szenario nur der Ausgangspunkt für eine Reise in die Dunkelheit, die im Herzen dieser mit Glanz und Glamour geschmückten Welt schlummert.
„Fifty Shades of Grey“ mit The Weeknd
Denn wirklich bedrohlich wird die Serie erst, als ihr zweiter Hauptdarsteller (und Co-Produzent) seinen großen Auftritt hat: Der kanadische R’n’B-Superstar The Weeknd spielt den Nachtklubbesitzer Tedros, den Joceyln kennenlernt, als sie eine Auszeit von ihrem persönlichen Drama nehmen möchte – und die dann diesem enigmatischen Mann verfällt.
Darüber, wohin dieses erotische Abenteuer führen wird, kann nach der ersten Episode der Serie nur spekuliert werden (weitere Folgen gab es für Journalisten vorab nicht zu sehen). Wenn Levinson aber alles richtig macht, wird „The Idol“ ein grandioses, erschütterndes Zeitgeistdrama. Wenn er alles falsch macht, wird daraus eine „Fifty Shades of Grey“-Sexfantasie, bei der der Intimitätskoordinator alle sechs Episoden in der Toilette eingesperrt bleibt.
The Idol: Abrufbar bei Sky-Q und Wow, TV-Ausstrahlung ab 17. Juli bei Sky Atlantic.
„The Idol“: Lily-Rose Depp, The Weeknd und Sam Levinson
Hauptdarstellerin
Lily-Rose Depp (24) ist die Tochter von Vanessa Paradis und Johnny Depp. Ihr Debüt gab sie in „Tusk“ (2014), für die Rolle in „Die Tänzerin“ (2016) erhielt sie als beste Nachwuchsdarstellerin einen César.
Hauptdarsteller
Der Kanadier Abel Makkonen Tesfaye (33) ist als Musiker besser unter dem Namen The Weeknd bekannt. Er hat bisher fünf Alben veröffentlicht und wurde mit drei Grammys ausgezeichnet.
Showrunner
Sam Levinson (38) ist der Sohn des Regisseurs Barry Levinson. Er arbeitet seit 2010 als Regisseur. Bekannt wurde er vor allem als Schöpfer der provokativen HBO-Serie „Euphoria“ (seit 2019).