Martin Herrmann von der Deutschen Allianz Klimaschutz und Gesundheit arbeitet mit anderen daran, dass gesellschaftliche Kipppunkte erreicht werden. Wie er das macht und warum er Windkraft als Therapie bezeichnet.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Martin Herrmann sagt, die Menschen wüssten, was zu tun sei, wenn ein Kind Fieber habe. Das gelte allerdings nicht für Hitze. Der Mediziner sieht Chancen, dass eine relevante Mehrheit beim Klimaschutz ins Handeln kommen, wenn den Leuten die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels klar werden.

 

Herr Herrmann, Sie sind ein so genannter Change Agent, also jemand, der rüttelt und ruckelt, um soziale Kippdynamiken auszulösen, oder?

Ja, aber wichtig, Change Agent kann jeder sein. Unser Ansatz ist, zu schauen, wie man direkt in die Handlungsdimension kommt. Nicht weitere wissenschaftliche Evidenzen sind ja der Knackpunkt, sondern die Frage: Wie schaffen wir es als Gesellschaft, ins Handeln zu kommen angesichts der Gefahr, die vor uns liegt?

Sie fokussieren sich auf die Diagnose, dass der Klimawandel die Gesundheit gefährdet. Ist das nicht ausreichend bekannt?

Wir wissen, was wir tun, wenn ein Kind Fieber hat, wir wissen, was wir tun, damit Kinder im Straßenverkehr nicht gefährdet sind, diese Reaktionsmuster haben wir bei Hitze nicht. Meine Einschätzung ist, dass es gelingen kann, das Verständnis für die Gefahr von Hitze in den nächsten Jahren in der Gesellschaft grundlegend zu verändern und damit auch dafür zu sorgen, dass wir viel besser vorbereitet sind auf die Hitzewellen, die in der Zukunft kommen werden.

Könnte man sagen: Eine bewusstere Anpassung an die Klimafolgen führt zu mehr Klimaschutz?

Ich würde es anders formulieren: Durch die Realisierung der Hitzegefahren wird die Klimakrise erlebbar. Ganz direkt. Dann ist es ganz leicht zu sagen: Du musst was tun, um dich vorzubereiten und mit diesen neuen Gefahren umzugehen, und du musst die Ursachen bekämpfen durch Klimaschutz. Einer unserer Narrative ist ja: die Energiewende als größtes Gesundheitsprojekt unserer Zeit, die Windkraft als Therapie.

Woran merkt, man dass es kippt?

Indem man im Feld arbeitet. Jeder von uns hat ja Felder, in denen er unterwegs ist, dann redet man mit Leuten, und dann kriegt man ein Gefühl, wer die Hauptakteure sind. Und wenn man mit Schlüsselleuten im Gespräch bleibt, merkt man, wie sich Dinge verändern. Ich merke es aber auch bei meinen Vorträgen, wenn sich das Zuhören verändert.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Im letzten Jahr hatten wir das Hitzeaktionsbündnis Berlin mit dem Senat und der Landesärztekammer gegründet. Das wurde schon nach wenigen Wochen als Leuchtturmprojekt wahrgenommen. Wir wurden viel häufiger von der Presse angesprochen als in den Jahren davor, die Anfragen waren auch präziser und kritischer. Oder ein anderes Beispiel: Wir haben ein großes Projekt gestartet mit dem AWO-Bundesverband zum Hitzeschutz in stationären Einrichtungen, das wird gefördert vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen, das war vor einem Jahr noch nicht denkbar.

Martin Herrmann ist Mediziner und begleitet Transformationsprozesse.

Ist Vernetzung das A und O?

Das ist das A und O, aber vernetzen und vernetzen ist nicht das gleiche. Vom sozialen Kippdenken her interessieren uns Vernetzungen, die ein Potenzial haben, nach vorne hin infektiös zu werden, ansteckend zu werden. Immer dann, wenn wir eine solche Kipppmöglichkeit sehen, springen wir rein, packen die Gelegenheit beim Schopfe. So gelingt es uns, ein Netzwerk von unruhigen Akteuren, von Superspreadern zu schaffen, die kurzfristig bereit sind, zusammenzukommen und zu sagen: Jetzt machen wir was.

Welche Rolle spielt der Einzelne?

Manchmal werden die sozialen Kippdynamiken so verstanden, dass sie sehr stark fokussiert sind auf das, was ich als Einzelner tun kann. Es geht aber eher darum, zu verstehen, was sich in großen Institutionen tut, was sich auch im Zeitgeist tut, das geht über die individuelle Fokussierung deutlich hinaus.

Mediziner und Transformationsberater

Person
Der Mediziner Martin Herrmann aus München begleitet seit vielen Jahren Transformationsprozesse, nämlich als Berater von Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Er entwickelte neue Methoden und lehrt an internationalen Hochschulen. Das Modell der sozialen Kippdynamiken ist ein Schwerpunkt. Herrmann ist erster Vorsitzender der Deutschen Allianz für Klimaschutz und Gesundheit (KLUG).

Allianz
Die KLUG engagiert sich seit Oktober 2017. Es handelt sich dabei um ein Netzwerk von Einzelpersonen, Organisationen und Verbänden aus dem Gesundheitsbereich. Auf der Website ist dazu zu lesen: „In unserer Arbeit fühlen wir uns dem Konzept der Planetary Health verpflichtet: Die Gesundheit der Menschen hängt von der Gesundheit der Ökosysteme ab.“ (ana)