Im Europaviertel sind zwei Brücken, die keine Funktion mehr haben, abgerissen worden. Erste Konturen des Quartiers sind erkennbar.

 

Stuttgart - Am Freitagabend rollen in der Wolframstraße die Bagger an. Wenige Stunden zuvor hat sich vor dem Projekt Stuttgart 21 eine weitere Hürde aufgebaut: Der Verwaltungsgerichtshof hat einer Klage der Umweltschutzorganisation BUND stattgegeben – die Bahn hatte Pläne beim Grundwassermanagement geändert und aus Sicht der Richter naturschutzrechtliche Auflagen nicht berücksichtigt.

Nach dem Urteil hat die Bahn die Bauarbeiten am Grundwassermanagement sofort gestoppt – doch während vor dem Südflügel des Bahnhofs Stillstand herrscht, rollt ein Kilometer entfernt schweres Gerät in Richtung Wolframstraße.An diesem vierten Adventswochenende werden über der Wolframstraße zwei Brücken abgerissen – und obwohl die Arbeiten nicht unmittelbar dem Baufortschritt für den umstrittenen Tiefbahnhof dienen, hängen sie doch mit dem Projekt Stuttgart 21 zusammen: Der Abriss der beiden alten Brücken ist ein kleiner Mosaikstein im künftigen Gesamtbild – nach und nach soll das sogenannte Baufeld A 1 erschlossen werden, das von den Planern als Europaviertel vermarktet wird.

Ein neuer Teil der Stuttgarter Innenstadt

Wo sich einst zwischen der Heilbronner Straße und der Wolframstraße der Güterbahnhof befand, soll ein neuer Teil der Stuttgarter Innenstadt entstehen.Der Wandel wird sich nicht geräuschlos vollziehen, auch wenn auf dem Areal hinter dem Bankenviertel noch nicht die größte Baustelle Europas ihren Betrieb aufgenommen hat. Ziemlich genau 48 Stunden hat die Baufirma Fischer aus Weilheim Zeit, um an diesem Wochenende die beiden Eisenbahnbrücken abzureißen, über die schon seit vielen Jahren keine Güterzüge mehr gerollt sind. Die Scheinwerfer eines Lichtwagens werfen helle Schneisen in die Dunkelheit, als die Mitarbeiter der Baufirma am Freitagabend Schotter auf die Wolframstraße schütten.

Wie ein Teppich liegt der Schotter rund 80 Zentimeter hoch auf der Straße – die Steine bilden ein sogenanntes Fallbett für die Trümmer, die auf die Straße herabstürzen werden, wenn später die Abrissbagger den Brücken zusetzen. Während die Schutzschicht auf der Straße aufgetragen wird, haben Arbeiter die Wolframstraße bereits zwischen der Straße Am Schlossgarten und der Nordbahnhofstraße gesperrt. Das gesamte Baufeld wird aus Sicherheitsgründen auch für die Fußgänger mit einem Zaun umstellt. Freitagnacht, noch stehen die Brücken.Am Samstagmorgen erwacht die Baustelle aus grauem Licht.

Exakt geplante Routen

Jörg Lutz steht im Matsch, er trägt eine neongelbe Weste, erst jetzt beginnt für ihn und für 14 weitere Mitarbeiter seiner Schicht die eigentliche Arbeit. Lutz ist Polier bei der Baufirma, die im Auftrag der DB Immobilien die Abrissarbeiten ausführt. „Wir folgen den Vorgaben von Statikern, die festgelegt haben, wie die Brücken abgebrochen werden“, erzählt Lutz – jeder Arbeiter und jede Maschine, die im Einsatz sind, folgen einem genau festgelegten Einsatzplan, fahren auf dem Baugelände auf exakt geplanten Routen. Die zeitliche Vorgabe für die Abbrucharbeiten? „Die ist sportlich“, sagt Jörg Lutz.

Wenig später versteht man ihn kaum mehr: Bagger bohren sich mit Hydraulikmeißeln in die erste Brücke hinein. Die Zerstörung folgt Regeln. Keinesfalls dürften sich die Meißel quer durch die Brücke bohren, erklärt Lutz, weil sonst das Bauwerk mit einem Knall auf das unten ausgelegte Schotterbett stürzen würde. Um Schäden am Straßenbelag zu vermeiden, tragen die Abbruchmaschinen die Brücke scheibchenweise ab. So nagen die Meißel die Brücke an deren Längsseiten nach und nach durch, bis auch der letzte Rest hinabstürzt. Im Schutt, der sich allmählich auftürmt, ragt eine Schiene aus den Trümmern heraus – bis zur Wolframstraße erstreckte sich einst der alte Güterbahnhof der Stadt.

Fertiges trifft auf Unfertiges

Wo nun das Europaviertel entstehen soll, prägten Gleisanlagen und Lagerhallen das Bild, bis 1998 die Abrissbagger kamen. Seitdem sind die beiden Brücken, die nun abgerissen werden, wertlos für den Schienenverkehr. Sie werden auch deshalb abgerissen, weil sie Platz machen müssen für den Neubau der Stadtbahnbrücke für die U 12, der im März 2012 beginnen soll.Noch ist das Europaviertel zwischen den Bankentürmen und der Wolframstraße ein Ort, an dem Fertiges auf Unfertiges trifft: Besucher betreten an diesem Samstagmittag die neue Bibliothek am Mailänder Platz.

Wenn sie von der Haltestelle Türlenstraße aus über einen provisorischen Steg zum Bücherwürfel gehen, sehen sie schon die Tunnelröhre für die U 12 – und hinter der Bibliothek die Pariser Höfe, deren Bau weit fortgeschritten ist und die im nächsten Frühjahr fertig sein sollen. Doch der Großteil des Europaviertels ist momentan noch ein ödes Baufeld. Vor dem Neubeginn steht der Abbruch. Der Polier Jörg Lutz blickt am Samstagmittag zufrieden auf eine Staubwolke, die sich verzieht. Die letzten Teile der zweiten Brücke sind zusammengestürzt, jetzt beginnt der Abtransport. Bis Sonntagabend muss alles aufgeräumt sein. Die Polizei meldet am Sonntag, dass es durch die Baustelle trotz des Weihnachtsverkehrs zu keinen größeren Behinderungen gekommen ist. Zwei einstige Brücken sind zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als fein gemahlener Schutt.