Stuttgart - Angeblich sorgen sich die Deutschen ums Klima. Laut einer Umfrage von Infratest dimap ist jeder vierte Bürger der Meinung, dass die wichtigsten Probleme Umweltschutz und Klimawandel sind. Doch die neueste Zulassungsstatistik ergibt ein anderes Bild: Erstmals wurden 2019 nämlich mehr als eine Million SUVs und Geländewagen neu zugelassen. Ihr Marktanteil liegt mit über 30 Prozent so hoch wie noch nie.
Vielleicht eine Männlichkeitsprothese
Die immense Nachfrage nach den „Stadtpanzern“, wie sie von Kritikern abschätzig bezeichnet werden, hat auch psychologische Gründe. Lutz Fügener lehrt Automobildesign in Pforzheim und sagt im Interview mit dem „Spiegel“ hinsichtlich des Verkaufsbooms: „Ich will nicht ausschließen, dass es bei Männern um eine Verlängerung der Körperlichkeit im Sinne einer Prothese geht.“ Bei weiblichen Käuferinnen gebe es, so Designexperte Fügener, das Klischee der „Hockey Mom“, einer Mutter, die ihr Kind im SUV zur Schule oder zum Geigenunterricht fährt. Das SUV als typisches, vermeintlich sicheres Elterntaxi.
Länger, breiter, schwerer
Vielen Neuwagenkäufern sind Status und Sicherheit wichtiger als das Klima, vom Design ganz zu schweigen. Von der Seite betrachtet lässt sich so ein „straßengängiger Geländewagen“ kaum vom anderen unterscheiden. Die Autos wurden über die Jahre länger, breiter und schwerer. Die Hersteller bauen aus Gründen der Effizienz zahllose Baureihen auf wenigen Plattformen nach dem Baukastenprinzip. Anders als früher, als jedes Modell individuell konzipiert wurde. Im VW Passat versteckt sich jetzt ein Golf. Der GLA von Mercedes? Ist bloß eine hochgebockte A-Klasse, nur teurer.
Getarnte Kriegsgeräte
Das Design der PS-Boliden hat etwas Bulliges, die Vorderpartie ist aggressiv gezeichnet. Vor Jahren verglich die Marketingabteilung des koreanischen Herstellers SsangYong die Frontschlitze ihres SUV-Modells Kyron mit den „Atmungsöffnungen eines Ritterhelms“. Tatsächlich wirkt manch ein Sport Utility Vehicle im Stadtverkehr eher wie ein als Familientransporter getarntes Kriegsgerät. „Böse Mienen überall“, kommentiert Paolo Tumminelli den Trend im Gespräch mit unserer Zeitung. Der 54-Jährige ist Direktor des Goodbrands Institute für Automobilkultur, Professor an der Technischen Hochschule Köln und zählt zu den renommiertesten Designexperten.
Oft funktionsloses SUV
Statt Innovationen erkennt Tumminelli „eine manipulative Show der Hersteller für eine total auf Sicherheit getrimmte Gesellschaft.“ Zur Show gehöre es, extrem große und unübersichtliche Autos mit wuchtigen Kühlergrills und Bling-Bling zu entwerfen. Was oft funktionslos und alles andere als sicher sei, so Tumminelli. Das German Design war einst vorbildlich oder mit den Worten Tumminellis ausgedrückt „ikonisch und voller Demut“. Man habe in den 60er und 70er Jahren noch „das menschliche Maß respektiert“ und in eine automobile Form übersetzt. Heute schaue der neue 1er von BMW wie ein Hyundai aus Südkorea aus.
Junges Talent bei Mercedes
Früher wäre das undenkbar gewesen. Andererseits: Wer weiß, wie es den Marken Mercedes und BMW ergangen wäre, wenn nicht Paul Bracq das deutsche Auto neu erfunden hätte – ein Franzose aus Bordeaux. In den 50er Jahren leistet Bracq seinen Militärdienst im Schwarzwald und stellt sich eines Tages in Stuttgart vor, bei Mercedes, mit einer Mappe voller Skizzen. Der Chefdesigner damals heißt Karl Wilfert, der das Talent erkennt, immerhin hat der junge Mann in Paris die renommierte École Boulle besucht, eine Schule für Gestaltung. Was folgt, ist eine steile Karriere, erst in Stuttgart, wo Bracq etwa mit den Baureihen W114 und W115 („Strich-Acht“) echte Millionenseller entwirft; dann bei BMW in München, wo der Franzose den erfolgreichen 3er sowie den legendären Turbo X1 kreiert.
Bracq in Sindelfingen
1970, also genau vor genau 50 Jahren tauschte Bracq seinen Sindelfinger Zeichentisch mit dem in München. Bracqs eleganter Strich ist seinerzeit die subtile Antwort auf das italienische Design der Keilform. Dem Franzosen gelingt das Kunststück, den Anspruch von Seriosität und Sportlichkeit in einen einzigen Entwurf zu packen. Zudem findet sich in Bracqs Portfolio kein einziger Ladenhüter, auch weil er die Sehnsüchte vieler Deutscher intuitiv versteht, die nichts mehr von den Entbehrungen und der Biederkeit der Nachkriegsjahre wissen wollen. Die BMW aus der Tuschefeder von Bracq stehen für ein neues Selbstbewusstsein, zeichnen sich durch filigrane Dachsäulen, großflächige Scheiben und Fronten mit der Doppelniere aus – bis heute ein Markenzeichen.
Zwiespältiges Urteil
Bracqs größter Coup ist aber der Mercedes 230 SL, ein Sportwagen, der 1963 auf dem Genfer Autosalon für Furore sorgt. Man lobt den 150-PS-Motor, die Federung. Zwiespältig fällt das Urteil bei der Karosserie aus. „Auto, Motor und Sport“, das Zentralorgan des konservativen Garagenbesitzers, zeigt sich geradezu angewidert: „Das Dach schockiert, weil es, betrachtet man es von vorn oder hinten, nach innen durchhängt.“
Ein schönes Auto
Tatsächlich entsprach das Hardtop nicht den Sehgewohnheiten. Übersehen wurde, wie der konvexe Kühlergrill samt Haube mit dem leicht konkaven, durchhängenden Dach in einem spannenden Dialog steht. Dieser Pagode genannte SL ist eines der schönsten je gebauten Autos. Eine Ikone deutschen Automobildesigns, von dem heute dank der SUVs nicht mehr viel übrig ist.
Alles Tesla oder was?
Und die Zukunft des Autodesigns? Die Limousine wird wohl bald ausgestorben sein. Paolo Tumminelli verweist zudem darauf, dass einige Autobauer in Erwägung zögen, ihre Kleinwagenreihen einzustellen. Aus Kostengründen. „Mit SUVs kann man einfach mehr verdienen.“ Deswegen, so der Designexperte, sei etwa das neue Modell mit Batteriebetrieb von Mercedes, nämlich der EQC, ein SUV.
Mit dem Geodreieck
Auch als neulich der Elektroauto-Hersteller Tesla der Welt den mit Spannung erwarteten Cybertruck vorgestellt hat, war die Enttäuschung groß. „Als hätte ihn ein Dreijähriger in ein paar Minuten mit dem Geodreieck gezeichnet“, stand in der „Bild“-Zeitung über den Elektro-Lastwagen auf den Reifenwalzen. Sein Aussehen verdankt der Cybertruck allerdings nicht einem Dreijährigen, sondern dem Automobildesigner Franz von Holzhausen, einem US-Amerikaner mit deutschen Vorfahren. Immerhin.