Er ist eine langweilige Tageszeit – trotzdem gilt er als Herzstück des Tages: Der Nachmittag hat viel gemein mit dem mittleren Lebensalter, man kann fragen: War’s das schon, was kommt noch? Ein Gutes hat das Ganze trotzdem.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Es gibt Sätze, die sollten nie gesagt werden. Zum Beispiel: „So schönes Wetter draußen, mitten am Tag sitzt ihr drinnen!“ Die Wörter in diesem Satz fallen wie große Matschknödel in den Raum. Ist es kindisch, sich auch im Erwachsenenalter noch von diesem Satz belästigt zu fühlen?

 

Schönes Wetter am Nachmittag kann sich lästig aufdrängen. Der sonnenbestrahlte Nachmittag ist kein bisschen bescheiden. Er wartet nicht, bis man auf ihn zugeht, er schaut fröhlich herein. Vor dem Fenster sitzt er wie ein schwanzwedelnder Hund, ganz so, als würde er sagen: Hier bin ich, und ich strahle. Komm raus! „Sonne, herbstlich dünn und zag, und das Obst fällt von den Bäumen. Stille wohnt in blauen Räumen. Einen langen Nachmittag“, schreibt Georg Trakl.

Es gibt andere Tageszeiten, die wunderbar sind

Lang ist er auf jeden Fall, der Nachmittag. Kann sich endlos anfühlen. Er gilt als Herzstück des Tages, wohl weil er sich über so viele Stunden hinweg ausdehnt. Zwischen 13 und 18 Uhr ist ja alles Nachmittag. Im Sommer liegt man auf einer Gartenliege, Kinder spielen, und die Sonne brennt herunter, die Zeit scheint aufgeblasen. Stunde um Stunde vergeht, nichts geschieht, irgendwer sagt: „Hach, ein Wetter, herrlich. Jetzt reißt’s auf! Kommt da noch was rein? “ Als würde sich das Spektakel nicht jeden Tag wiederholen.

Es gibt andere Tageszeiten, die wunderbar sind, wie den frühen Morgen, wenn das Licht hinter den Häusern hervorkriecht, die Luft klar ist und andere noch nicht wach. Oder den späten Vormittag, mit Kaffee irgendwo im Schatten. Den frühen Abend, wenn die Sonne schräg scheint, ein letztes Mal voller Leuchtkraft am Himmel, man weiß noch nicht, was der Abend bringt. Und die tiefe Nacht: Im Dunkeln sieht die Welt ganz anders aus, viele Menschen schlafen, Verrücktes geschieht.

Die Zeit nach dem Mittagessen wiederum ist schon im Kindesalter geprägt von Warten und Langeweile. Den Klavierunterricht und die Hausaufgaben lehnt man ab, das Geräusch der Spülmaschine entfaltet hypnotische Wirkung. Aufenthaltsräume in Schulen heißen so, weil klar ist: Darin wird sich jenseits des bloßen Aufhaltens definitiv nichts Aufregendes ereignen. Die Wände grau, die Minuten lang – und danach folgt verdammt noch mal Nachmittagsschule.

Der Nachmittag in seiner Fadheit ist ohne Aktivitäten für die meisten gar nicht zu ertragen

Auch die biedermeierliche Spießbürgerlichkeit spielt sich am wahrscheinlichsten auf der Bühne des Nachmittages ab. Sommers wie winters sitzt seit Jahrzehnten mancherorts eine Gesellschaft in angestaubten Stuben, die einander aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Verhältnisse nicht entkommen kann. „Man saß im ,Landschaftszimmer‘“, heißt es in Thomas Manns „Buddenbrooks“, „gegen vier Uhr nachmittags, in der sinkenden Dämmerung“, dort „hatte man zum Teil auf den Stühlen und dem Sofa Platz genommen, man plauderte mit den Kindern, sprach über die frühe Kälte, das Haus, betrachtete die Kuchen, Korinthenbrote und verschiedenartigen gefüllten Salzfässchen“. Das klingt beängstigend öde.

Angestellte hören oft, man müsse die langen, wertvollen Nachmittagsstunden nutzen, um was wegzuschaffen. Die meisten Menschen können sich Studien zufolge zwar nach dem Mittagessen erst einmal nicht konzentrieren und funktionieren eher, als zu denken, schlagen Zeit tot, statt produktiv oder kreativ zu sein. Doch der Nachmittag gilt immer noch als zentrale Zeit für die Erledigung von dem, was Erwerbsarbeit genannt wird, in Büros, Praxen oder Läden.

Wer Freizeit hat, nimmt sich standardmäßig etwas Schönes oder Geselliges vor für diese Tageszeit. Wahrscheinlich weil der Nachmittag in seiner Fadheit ohne Aktivitäten für die meisten gar nicht zu ertragen ist. Wir fahren in die Stadt – am Nachmittag bummeln. Wir gehen wandern – eine ausgedehnte Tour in der Nachmittagshitze. Wir besuchen Tante Grete – zur Kaffeestunde.

Der Nachmittag ist Warten. Nur worauf?

Dann packt man das Auto voller Sachen, um die Freizeit in ganzen Zügen auszukosten. Wer nachmittagskritisch ist, den versetzen bestimmte Beobachtungen in einen inneren Lähmungszustand. Mit aufblasbaren Tieren vollgestopfte VW Touran. Aber auch kleine schwarze Handtaschen älterer Damen, unter die Achsel geklemmt, in denen sicher ein Taschentuch steckt. Nach Sonnencreme riechende, mit Liegetüchern ausgestopfte Sporttaschen, die ins Freibad wollen.

Und weil das alles keine Sache des Sommers allein ist, kann auch der nachmittägliche Anblick eines gebastelten Weihnachtssterns am grauen Fenster bedrückend sein, wenn schon Anfang Januar ist. Oder ein im Garten vergessener Hüpfball, im dumpfen Licht eingeschneit, Fixpunkt der nach draußen gerichteten Augen zur Kaffeestunde. Und, schlimmstes Nachmittagsgeräusch überhaupt: das Ticken einer Uhr.

Wer all das wahrnimmt und nicht wegschauen kann, der sollte schnell an etwas anderes denken, sonst wird es existenziell. Der Nachmittag ist Warten. Nur worauf?

Tatsächlich geschieht meist nichts von Belang am Nachmittag. Ist er schon angebrochen, stellt man vielmehr fest, es ist eigentlich für alles zu spät oder zu früh. Und damit hat der Nachmittag Ähnlichkeit mit dem mittleren Lebensalter, in dem, so hört man, viele Menschen in eine Krise rutschen. Was tun mit dem angebrochenen Tag, also dem angefangenen Leben? Man steht so zwischendrin. Die Spuren sind gebahnt, in denen es sich langlaufmäßig teilnahmslos gleiten lässt. War’s das schon?

Nicht mehr alles ist offen, heute wird man zu keinem Tagesausflug in die Berge mehr aufbrechen. Und man wird in diesem Leben wohl auch kein Bundesliga-Fußballer und keine Quantenphysikerin mehr. Aber es gibt noch Handlungsoptionen. Das bedeutet Druck. Wenn du etwas tun willst, dann fang endlich damit an! Sonst wird das heute nichts mehr. Man könnte auch sagen: Sonst wird das in diesem Leben nichts mehr. Der Nachmittag entfaltet das ganze Drama eines klassischen Übergangsstadiums, wird rilkehaft zum Damaskuserlebnis: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Der Protagonist in Peter Handkes Erzählung „Nachmittag eines Schriftstellers“ hat seine Arbeit jeden Tag mit Beginn des Nachmittages beendet, sie soll erst am nächsten Vormittag fortgesetzt werden. Am Nachmittag hingegen läuft er umher, es ereignet sich nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches, und der Schriftsteller erlebt den Nachmittag als „Zwischenzeit“, betrachtet ihn als Angebot der Erfahrungen und Beobachtungen.

Im Süden hat man erkannt, dass es nicht verkehrt ist, den Nachmittag zu verschlafen

Mit steigendem Lebensalter nimmt auch die Wahrscheinlichkeit ab, von anderen bezüglich der Nachmittagsnutzung dirigiert zu werden. Anscheinend setzt sich der Eindruck der eigenen Kauzigkeit fest. Bald schon wird man alleine in eine Bar gehen oder verreisen können, ohne dass es zu Rückfragen kommt. Man wird kritische Leserbriefe schreiben, in der Mittagshitze ungestört mit einem schönen Mann am Meer liegen und in bunter Funktionskleidung eine Matinee besuchen. Der Nachmittag wird verheißungsvoller.

Im Süden hat man erkannt, dass es auch nicht verkehrt ist, den Nachmittag zu verschlafen. Wer aus der Siesta aufwacht, mit dem ersten Blick ins Vorabendlicht, stellt erleichtert fest, jedem Nachmittag wohnt ein Versprechen inne: Auf ihn folgt ein Abend. Einer, an dem doch fast alles möglich ist.