Tomas Espedal hat sein lyrisches Tagebuch „Das Jahr“ im Literaturhaus vorgestellt.

Stuttgart - Im Vorgriff auf die Frankfurter Buchmesse, wo das Gastland dieses Jahr Norwegen heißt, hat das Stuttgarter Literaturhaus eine Reihe mit norwegischen Autoren in sein Programm genommen, die jetzt mit Tomas Espedal und seinem Roman „Das Jahr“ (Verlag Matthes & Seitz) eröffnet wurde. Espedal, 1961 in Norwegens zweitgrößter Stadt Bergen geboren, war in Begleitung seines Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel gekommen; „Das Jahr“ ist der neunte Teil eines zehn Bücher umfassenden Romanzyklus, der mit ganz unterschiedlichen Textformen experimentiert: Tagebuch, Brief, Notizsammlung, Reisebericht, Essay oder Langgedicht.

 

Von der Literaturkritik wird Espedals Werk gern mit dem seines Landmanns und Freunds Karl Ove Knausgård verglichen und dem Genre „Autofiktion“ zugeordnet. Vor etwa zwanzig Jahren, so erzählte Espedal, seien er und einige Schriftstellerkollegen unzufrieden mit dem Gros der zeitgenössischen norwegischen Romanproduktion gewesen: zu brav, zu gemütlich, zu konventionell – so lautete ihre Kritik. Sie forderten stattdessen einen neuen, an Autoren wie Balzac und Proust geschulten Realismus, der keine Scheu vor mit Scham belegten Themen haben und mit den Gesetzen des guten Geschmacks brechen sollte. In einem stark sozialdemokratisch geprägten Land wie Norwegen sollten die Autoren sich trauen, „ich“ statt immer nur „wir“ zu sagen. Dieser Realismus ging allerdings so weit, dass in den Büchern die richtigen Namen lebender Personen vorkamen, was zu Strafanzeigen, Morddrohungen und Schlägereien führte. Wir haben erlebt, dass die Wirklichkeit zurückschlug, kommentierte Espedal lakonisch diese Entwicklung, aber er sei ein Boxer und fürchte sich davor nicht.

Espedal orientiert sich an Petrarcas Gedichten

„Das Jahr“ orientiert sich im Aufbau an der Gedichtsammlung „Canzoniere“ des italienischen Renaissancedichters Petrarca, der in 366 Gedichten (also so vielen wie das Jahr Tage hat) seine Geliebte Laura besungen hat. Man könnte es als lyrisches Tagebuch bezeichnen, oder wie der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel als einziges großes Langgedicht. In ihm verbindet Espedal das morgendliche Anwerfen der Kaffeemaschine mit den Radionachrichten von ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer, dem herbstlichen Fallen der Blätter im Garten und Reflexionen über Einsamkeit als Form der Auflehnung. Auf die Forderung nach dem großen norwegischen politischen Roman antwortet er mit dem Nachweis, dass das Politische im Kleinen steckt, in einer Natur und einer Liebe, die aus dem Gleichwicht geraten sind.

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