Im umgebauten Pfarrhaus Mariä Himmelfahrt will die katholische Kirche ihr Beratungsangebot zum Thema Trauer bündeln. Ein Vorortbesuch in einem fast fertigen Haus bei Anke Keil.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ein besserer Umgang mit Trauer, das ist der Arbeitsauftrag, den sich das Trauerzentrum in Stuttgart Degerloch selbst gegeben hat. Das auf der bisherigen Trauerbegleitung des katholischen Hospizes St. Martin aufbauende Haus will Menschen zur Seite stehen, die selbst trauern oder Trauernden beistehen wollen – in der Schule, bei der Arbeit oder überall im Alltag. Die Theologin und ausgebildete Familientrauerbegleiterin Anke Keil hat das Konzept mitentwickelt und weiß: Manchmal ist Geduld die beste Hilfe.

 

Frau Keil, fehlt es uns am Wissen ums Trauern? Kann nicht jeder trösten?

So müsste es sein. Wir alle haben eigentlich die angeborene Fähigkeit, mit Verlusten umzugehen, indem wie trauern. Der Tod ist ja nicht unsere einzige Trauer. Wir müssen uns im Laufe eines Lebens von so vielem verabschieden: Menschen, Orten, Gewohnheiten, Plänen. Aber nicht immer gestehen wir uns das ein. Wir lernen, über diese Momente drüberzugehen, an denen eigentlich Anlass wäre innezuhalten. Und Tod ist dann ein sehr großes Thema, wenn man sich vorher diese kleineren Trauern nie zugestanden hat, nie eingeübt hat, Abschied zu nehmen. In den Trauergruppen erlebe ich sehr oft, dass Trauernde das Gefühl haben, etwas falsch zu machen, nicht zuletzt weil sie ungeduldige Ratschläge von ihrer Umwelt bekommen.

Was erwarten Trauernde denn von den anderen?

Es gibt nichts, was für alle gleichermaßen gilt? Mich hat sehr aufhorchen lassen, als eine Frau gesagt hat: Jeder wünscht mir immer viel Kraft. Und wenn ich die ganze Kraft zusammenzähle, wäre ich schon Superwoman. Aber ich spüre davon nichts. Sie hat sich sehr dagegen gewehrt, weil sie hinter dem Wunsch den Anspruch gespürt hat, möglichst schnell wieder normal zu sein. Denn dann müssen die anderen in ihrem Leben nichts verändern und nicht so lange mit ihrer Trauer leben. Vielleicht wäre Geduld manchmal das Wertvollste. Oder jemand, der einfach nur zuhört.

Und nicht sagt: Melde dich, wenn du was brauchst…

Genau, wenn man selber nicht weiß, was man braucht, wie soll man dann sagen können: Ich melde mich, weil ich keine Kraft hatte zum Einkaufen und jetzt eine Suppe vor der Tür brauche. Das macht kein Mensch. Vielleicht braucht man den Mut, zu Trauernden zu sagen: Ich mach dir mal einen Vorschlag; und du kannst Nein sagen.

Sind es die kleinen Gesten, die helfen können?

Ja, denn im Alltag spürt man die Trauer besonders, die Größe des Verlustes und die Wucht des Vermissens. Es gibt von außen oft den irrigen Glauben, dass der Tod selbst das Schlimmste ist. Dann kommt vielleicht noch die schlimme Beerdigung – und dann wird’s doch besser. Trauernde machen aber die Erfahrung, dass diese Idee nicht aufgeht und es ihnen oft schlechter geht zu einem Zeitpunkt, wenn das Umfeld längst weitergegangen ist. Dann entsteht eine Kluft. Denn im Alltag merkt man die Lücken: Eigentlich würde ich sonntags mit meiner Mutter telefonieren. Ich würde meinen Vater um Rat fragen, weil mein Auto kaputt ist. Wir würden zusammen einen Urlaub buchen ... Man erlebt Trauer in den Routinen des Alltags am stärksten.

Müssen wir dann nicht alle viel trauerkompetenter werden, als wir es momentan sind?

Ich glaube schon. Trauer fällt einfach aus der Zeit. Sie ist nicht schnell, sie ist nicht linear. Was heute gut war, kann morgen schon wieder nicht auszuhalten sein. Trauer ist keine kontinuierliche Fortschrittsgeschichte. Genau das erwarten viele. Aber der Verstorbene bleibt ein Leben lang tot. Wir erleben oft, dass Menschen fragen, ob sie auch Jahre nach dem Tod des Vaters in eine Trauergruppe kommen können. Ja, natürlich geht das.

Trauer ist komplex.

Ich denke, ein Gefühl wie Trauer, nimmt andere Gefühle huckepack. Auch die vielen Traurigkeiten. Ängste. Schuldgefühle. Ich glaube, es gibt kaum einen Trauerfall, bei dem es nicht auch um das Thema Schuld geht. Am Ende hat man immer das Gefühl, etwas schuldig geblieben zu sein. Sei es Zeit oder Aufmerksamkeit. Ohnmacht ist auch ein Gefühl, das zur Trauer gehört. Da können auch andere Ohnmachtsgefühle andocken.

Sie haben ganz unterschiedliche Trauergruppen – für Kinder, Familien oder Erwachsene. Sind die Bedürfnisse je nach Lebensphase unterschiedlich?

Durch die lange Tradition von St. Martin können wir im Trauerzentrum Angebote für unterschiedliche Altersstufen machen. Wenn man den Ehepartner verliert, ist es ein Unterschied, ob man Kinder hat oder nicht. Und wie alt die Kinder sind. Da steht man vor anderen Fragen als jemand, der in fortgeschrittenem Alter verwitwet. Junge Erwachsene sind in dieser Lebensphase ohnehin auf der Suche. Wenn da noch Trauer dazukommt, ist das etwas anderes, als im fortgeschrittenem Alter die Eltern zu verlieren. Und es macht einen Unterschied, um wen ich trauere. Ob um ein Kind, ein Elternteil oder ein Geschwister. Das sind unterschiedliche Beziehungen.

Sehen Sie die Gefahr, dass man Trauende einfach zu Ihnen schickt und die Trauer wie in ein Kompetenzzentrum wegdelegiert?

Die Tendenz gab es schon immer: Geh mal zu den Profis. Die Idee dahinter: Damit du möglichst schnell wieder normal funktionierst und in dein altes Leben zurückpasst, ohne da aufzufallen und „zu stören“. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns auch an Multiplikatoren wenden. Trauer muss dort wahrgenommen werden, wo sie stattfindet. Es ist schön und stärkend, wenn wir eine Kindertrauergruppe haben. Die Kinder sind aber fünf Tage die Woche in der Schule oder im Kindergarten. Kinder wollen schnell wieder in den Alltag, weil Schule und Kindergarten Struktur geben und dort alles so ist, wie vorher. Deshalb braucht es dort sensible Menschen, die im Blick behalten, wie es ihnen geht und ihr Verhalten einordnen können. Es wäre schön, wenn hier im Haus Praxistreffen stattfinden würden, bei denen sich Menschen über ihre Erfahrungen austauschen können. Das ist eines unserer Ziele: Menschen auf der Alltagsebene zu vernetzen.

Dazu könnten auch Personalverantwortliche aus Betrieben gehören.

Solche Schulungen würden wir natürlich machen. Das wäre wichtig. Manchmal fängt es ja schon bei der Frage an, was man in eine Trauerkarte schreibt. Oder wie man jemanden nach einer Abwesenheit wieder in Empfang nimmt. Da geht viel schief. Viele verwaiste Eltern, die in den Beruf zurückgehen, berichten von verletzenden Situationen. Das passiert gar nicht aus Boshaftigkeit der Kollegen. Meist geschieht das aus Überforderung und weil man nicht weiß, wo man sich hinwenden kann. Ich habe jetzt von einer Kommune gehört, die in ihrem Fortbildungsangebot für Mitarbeiter das Thema Trauer am Arbeitsplatz aufgenommen haben. Trauer ist keine Sache nur für die Freizeit.

Und sie kommt wie der Todesfall immer zur Unzeit.

Deshalb denken wir über eine Form der Akutbegleitung nach. Wenn man etwa nicht weiß, ob man sein Kind zur Beerdigung der Oma mitnehmen soll oder nicht. Viele Eltern sind unsicher, haben Angst, etwas falsch zu machen. Wir wollen in solchen Situationen beraten. Oder auch in der Übergangszeit, wenn man noch nicht für eine Trauergruppe bereit ist, aber Fragen hat und Unsicherheiten. Das wollen wir ausbauen.

Was ist das Trauerzentrum?

Person
Anke Keil (42) hat in Tübingen katholische Theologie studiert. Sie hat lange in der Telefonseelsorge gearbeitet. Weil sie selbst betroffen war und es kein Hilfsangebot gab, hat sie mit einer Psychologin eine Gruppe für Eltern gegründet, deren Kind tot geboren wurden. Sie arbeitete als Trauerbegleiterin im katholischen Hospiz St. Martin. Seit Juni 2022 ist sie Referentin für die Profilstelle Trauerpastoral im Trauerzentrum.

Haus
Das Trauerzentrum öffnet am Freitag, 3. März, von 10 bis 16 Uhr seine Räume im Alten Pfarrhaus der Kirchengemeinde Mariä Himmelfahrt, Karl-Pfaff-Straße 48 in Stuttgart-Degerloch zu einem Tag der offenen Tür. In den umgebauten Räumen sollen die bisherigen Angebote gebündelt und weiter ausgebaut werden. Das Zentrum ist ein Projekt von katholischem Stadtdekanat Stuttgart, der Gemeinde Mariä Himmelfahrt und der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Entstanden ist die Idee im Zuge des Projekts Aufbrechen der Katholischen Kirche in Stuttgart.