Jahrelang sind mehr Menschen mit türkischen Wurzeln in die Türkei zurückgegangen als nach Stuttgart gekommen sind. Das hat sich nun geändert. Die Zahl der Zuzüge aus der Türkei überwiegt wieder die der Wegzüge.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Wer sich die Wirtschaftsentwicklung der Türkei und deren hohe Wachstumsraten der vergangenen 15 Jahre vor Augen führt, den wundert nicht, dass das Land in dieser Zeit eine starke Anziehungskraft auch für Deutschtürken hatte. „In den Nullerjahren sind viele Hochqualifizierte in die Türkei gegangen“, sagt der Hamburger Sozialforscher Yasar Aydin, der das Thema untersucht hat. Gerade jüngere Fachkräfte, darunter nicht wenige mit deutschem Pass, versprachen sich in der Heimat ihrer Eltern bessere Karrierechancen – auch weil sie sich in Deutschland immer noch benachteiligt fühlten. Die Türkei wurde für manchen zum Sehnsuchtsort mit angenehmerem Klima und passenderem familiären, kulturellen und religiösen Umfeld. „Die Hoffnungen waren groß“, sagt Faruk Ceran vom Verband Self. Darin sind in der Region Stuttgart rund 80 Selbstständige und Unternehmer organisiert, vorwiegend türkischer Herkunft.

 

Viele Jahre sind mehr Leute weggezogen als gekommen

Diese Entwicklung lässt sich anhand der Wanderungsstatistik für Stuttgart zeigen, wo aktuell rund 34 000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben. So ist der Saldo der Zuzüge und Wegzüge von und in die Türkei von 2005 an lange negativ gewesen (seit 2002 galt die Türkei als Wachstumsmarkt), es zogen mehr Menschen in die Türkei als von dort hierher. Im Jahr 2006 gingen gut 200 Personen mit türkischem Pass mehr aus Stuttgart zurück in die Heimat ihrer Familien als kamen (716 zu 509). Und nicht nur hier: Laut einer Studie sind von 2007 bis 2011 nahezu 200 000 Menschen aus Deutschland in die Türkei ausgewandert.

Nun sind diese Zahlen nicht vergleichbar mit den Bewegungen, wie man sie noch Ende der 1970er Jahre kannte. So zogen 1980 insgesamt 4756 Menschen aus der Türkei nach Stuttgart, 2619 verließen die Stadt dorthin. Seit Mitte der 1990er Jahre sind diese Werte in keiner Richtung mehr über die 1000er-Grenze gekommen. Seither sei „die Entwicklung relativ stabil“, sagt Attina Mäding vom Statistischen Amt der Stadt.

Forscher spricht von „zirkulärer Migration“

Als Indikator ist der Wanderungssaldo aber allemal gut. Und er zeigt: Neun Jahre lang hatte die beschriebene Entwicklung angehalten, bis zum Jahr 2014. Jetzt aber kommen wieder mehr Menschen aus der Türkei nach Stuttgart. Im Vorjahr lag das Plus bei 100 (es gingen 479 Personen, 579 kamen), im Jahr 2015 waren es ebenso viele. Seit Anfang 2016 mehren sich auch in der türkischen Wirtschaft die Krisenzeichen.

„Spätestens seit dem vergangenen Jahr hat sich die Lage gewandelt“, sagt Yasar Aydin. „Auch viele Akademiker kommen wieder zurück nach Deutschland.“ Der Sozialforscher sieht sich in seiner Auffassung bestätigt, dass zwischen Deutschland und der Türkei eine „zirkuläre Migration“ herrsche. Die Rückkehrer der Nullerjahre hätten „Deutschland nicht komplett den Rücken gekehrt“. Für viele sei klar gewesen: Wenn alle Stricke reißen, gingen sie eben zurück.

Politisch verfolgte Unternehmer im Land

Taylan Özdemir, Stuttgarter Unternehmer im Bereich Telekommunikation mit türkischen Wurzeln, kann das bestätigen. „Mit den Gezi-Park-Protesten hat sich die Stimmung geändert“, ist sein Eindruck. Die waren im Sommer 2013. Özdemir kennt hier aufgewachsene und ausgebildete Leute, die erst gegangen und jetzt wieder aus der Türkei zurückgekommen sind: einer aus der Tourismusbranche, der sich dort auf deutsche Touristen spezialisiert hatte, die nun ausbleiben, und ein früherer Mitarbeiter, ein Einzelhandelskaufmann Anfang 30 mit deutschem Pass. Dazu passt die Statistik der Stadt, nach der in den vergangenen drei Jahren insbesondere Menschen aus der Altersgruppe der 30- bis 45-Jährigen zurück nach Stuttgart gekommen sind.

Neben dieser eher wirtschaftlich bedingten Rückkehr finde auch eine neuerliche „Politisierung des Migrationsphänomens“ statt, sagt Sozialwissenschaftler Aydin. Faruk Ceran weiß davon zu berichten. Vorher hat der Wirtschaftsingenieur deutsche Firmen beim Schritt in die Türkei begleitet und auch Fachkräfte, die bei den gut laufenden Geschäften auch deutscher Unternehmen am Bosporus wegen ihrer Vertrautheit mit beiden Kulturen gefragt waren. Doch die wachsende Unsicherheit, die angespannte Lage und die heutige „Intoleranzkultur“ treibe viele zurück nach Deutschland, sagt Ceran. „Das gilt auch für Leute, die Präsident Erdogan eigentlich nahe stehen“, sagt Ceran. Trotzdem haben zwei Drittel der Stuttgarter Türken dem Verfassungsreferendum von Erdogan zugestimmt.

Inzwischen kümmert sich der Verein Self hier auch um Unternehmer aus der Türkei, die unter Druck geraten und ausgereist sind, etwa wegen ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung. „Die Leute wollen ihre Firmen hierher verlagern und so schnell wie möglich ihre Arbeit fortführen“, erzählt Faruk Ceran. Darunter seien durchaus auch mittelständische Betriebe, die mehrere Standorte und einige Hundert Mitarbeiter in der Türkei haben. Er kenne etwa 20 solcher Fälle alleine in der Region Stuttgart, rund 100 seien es in Baden-Württemberg. Ceran: „Einige haben auch Asylanträge gestellt.“