Sanfte Pädagogik oder harte Schule des Lebens? Was ist der richtige Weg, um aus Bübchen echte Männer und aus Mädchen starke Frauen zu machen? In Norwegen helfen Kita-Kinder bei der Rentier-Schlachtung. Ist das kindgerecht oder traumatisch? Ein Kommentar.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - „Einen Edelstein kann man nicht blank machen, ohne ihn zu reiben.“ Diese prägnante Weisheit hat (nebst vielen anderen) der chinesische Gelehrte K’ung Ch’iu, besser unter seiner latinisierten Form Konfuzius 551-479 v. Chr.), der Nachwelt hinterlassen.

 

Dieselbe Aussage aus dem Mund des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) lautet so: „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.“

Solche klassischen Sätze, die Kindern in der Erziehung fordern und Erziehende herausfordern, scheinen so gar nicht in das Schema der modernen antiautoritären, weichgespülten Kuschel-Pädgogik zu passen, wie sie sich 2500 Jahre nach dem großen Weisen aus dem Reich der Mitte auch hier zu Lande durchgesetzt hat.

Norweger sind anders

In der norwegischen Erziehung geht man offensichtlich andere Wege, um aus kleinen staunenden Wesen autonome, gereifte Erwachsene zu machen. Im hohen Norden wird wenig geredet, dafür umso mehr gehandelt, wie die Empirie beweist. Schon Kita-Kinder müssen mitanpacken, wenn es gilt unangenehme Aufgaben zu bewerkstelligen.

Der Kindergarten Granstuben Barnehagen bei Trondheim ist hierfür das beste Beispiel. In den Adern der Erzieher und ihrer Schützlingen fließt das Blut der Wikinger. Getreu dem Motto „Gelobt sei, was hart macht“ (noch ein Spruch von Nietzsche aus dem „Zarathustra“) geht es bei Ausflügen nicht in den reizüberfluteten Freizeitpark oder ins lauwarme Schwimmbad, sondern in die eiskalte, freie Natur. Zu den Rentierherden.

Aber nicht etwa in den Streichelzoo, wie hier zu Lande bei Klassenausflügen üblich. Nein! Zur Schlachtung, wo das Blut in Strömen fließt, Gedärme quellen und Köpfe rollen.

„Zurück zur Natur!“

In Norwegen interpretiert man den Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) zugeschriebenen Spruch „Zurück zur Natur!“ so: Natur ist dort, wo das wahre Leben pulsiert, der Mensch zu seinen Wurzeln findet und die Quellen seines Daseins ergründet.

Demgemäß ist der Ausflug der Kids vom Granstuben Barnehagen ein echtes Naturerlebnis. Ganz wie es der heute so beliebten Natur- und Umweltpädagogik vorschwebt: Wissen vermitteln und Erfahrung sammeln über die Natur und ökologische Zusammenhänge.

Welches Kita-Kind in Deutschland weiß noch etwas mit dem Satz Ludwig Feuerbachs (1804-1872) anzufangen „Der Mensch ist, was er isst.“ Für viele Kids kommt die Milch aus dem Tetrapack, das Brot aus der Bäckerei und Süßigkeiten sind ein Geschenk des Himmels.

Wenn Kinder Ehrfurcht und Respekt vor ihrem „täglich Brot“ lernen sollen, müssen sie wissen, sehen und hautnah erleben, woher es kommt, wie es heranreift und gemacht wird.

„Learning by doing“

„Zurück zur Natur!“ Das bedeutet nun allerdings nicht, alle Zwei- bis Fünfjährigen aus Stuttgart für eine Woche nach Lappland oder Grönland zwangszuverfrachten, damit sie erleben, wie Samen Rentiere und Eskimos Robben ausweiden. Es gibt so etwas wie einen Inkulturationsschock. Das hat schon die Pseudo-Erziehungs-Reality-Show „Die strengsten Eltern der Welt – Jugendliche lernen Respekt“ (Kabel Eins) gezeigt. Dort ging es nicht um das Erlernen von Ehrfurcht und Respekt, sondern um die Vermittlung von Angst und Horror.

Was also ist das (Fern-)ziel von Pädagogik? „Learning by doing“ – Lernen durch Handeln. Das Einüben des Lebens als lebenslanger Lernprozess, in dem die integrale Realität, in der jedes Individuum lebt, Maßstab und Horizont ist.

Für Kinder aus Nord-Norwegen sind das Rentiere, denen man das Fell über die Ohren zieht. In Deutschland sind es (zum Beispiel) Aktiv-Sommerferien auf dem Bauernhof mit Stall ausmisten, Pferde striegeln und Hühner füttern.

Die goldene Mitte

Die goldene Mitte zu finden ist auch in der Pädagogik ein stets schwieriger Weg, dafür aber der richtige. „Die Tugend ist ihrem Wesen nach, das heißt nach der Definition, die angibt, was es heißt, dies zu sein, eine Mitte“, erklärt der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.).

Fingerspitzengefühl ist gefragt, wie der Stuttgarter Kinderpsychiater Michael Günter im Interview mit dieser Online-Zeitung betont: „Man sollte so etwas wie eine Schlachtung oder andere drastischen Dinge bei Kindern mit einem gewissen Fingerspitzengefühl und einer gewissen Vorsicht angehen. Ich würde, wie gesagt, keine Kinder mit ins Schlachthaus nehmen. Aber wenn irgendwo ein Huhn geschlachtet wird, könnten sich Kinder das durchaus angucken, wenn sie vorher gefragt werden. Darin sehe ich kein Problem.“