Unterrichtsausfall an Stuttgarter Schulen Früher war der Mangel noch eklatanter als heute

Auf Lehrermangel folgt Lehrerschwemme: eine Demo arbeitsloser Lehrer in Stuttgart in den 1980er Jahren. Foto: Maucher

Unterrichtsausfall ist ein Aufregerthema, schon immer gewesen. Aber früher wurde anders darüber diskutiert. Der Wandel kam vor 18 Jahren.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Unterrichtsausfall ist eines der Aufregerthemen unserer Tage. Es landet inzwischen sogar vor Gericht. Elternvertreter klagen, ihre Kinder würden benachteiligt. Das wirft die Frage auf, ob man in früheren Jahrzehnten bei dem Thema womöglich entspannter war. Für die Antwort haben wir Tausende Berichte zum Thema Schule aus dem Archiv unserer Zeitung durchgesehen, in denen die Debatten seit den späten 1940er Jahren dokumentiert sind.

 

Etwa die Hälfte der Berichte befasst sich mit der Unterrichtsversorgung – wenngleich aus einer anderen Perspektive als heute. Jahrzehntelang geht es vor allem um den „Schweinezyklus“ und die Folgen: Auf Lehrermangel und ausfallenden Unterricht folgt der Ausbau von Ausbildungskapazitäten. Sobald die vielen neuen Lehrer in die Schulen drängen, hat sich der Bedarf verändert, nicht alle Absolventen werden übernommen. Die Bewerberzahlen gehen zurück – und das Spiel beginnt von vorn. Das Thema füllt ganze Aktenordner im Archiv.

50 Schüler pro Klasse

Früher war der Mangel eklatanter als heute. Noch im September 1956, beklagt ein Bericht den „lästigen Schichtunterricht“: Ein Kind wird morgens, eines mittags, eines nachmittags unterrichtet, weshalb „die Hausfrau ihre Arbeit nicht mehr vernünftig einteilen kann, weil sie zu den seltsamsten Tageszeiten mit dem Aufwärmen des Mittagsessens, mit Geschirrspülen usw. beschäftigt ist. Nicht zuletzt leiden auch die Kinder Schaden, wenn sie nachmittags ermüdet in die Schule kommen.“

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Damals geht es darum, überhaupt Unterricht zu halten und Klassen zu verkleinern. 1964 hat eine durchschnittliche Stuttgarter Volksschulklasse 50, eine Gymnasialklasse 30 Schüler.

Erste Beschwerden über ausfallenden Unterricht kommen schon bald danach auf. „Tausende Schulstunden fallen aus“, liest man im April 1967, und im Juni: „Der Lehrermangel ist offenkundig“. Von da an verschärft sich der Ton rasch. 1968 macht der Ministerpräsident Hans Filbinger das Thema zur Chefsache. Die steigende Zahl weiblicher Lehrer bringe „erhebliche Unsicherheit in die Personalplanung“ – wegen Schwangerschaften und weil „viele jüngere Lehrerinnen auf die Ausübung ihres Berufes finanziell nicht angewiesen“ seien.

Die Eltern greifen ein

In dieser Zeit greifen Eltern erstmals in die Debatte ein. 1971 ist von einer „Katastrophe“ die Rede, es häufen sich Berichte von Eltern und Schülern, die per Plakat oder Zeitungsanzeige selbst nach Lehrkräften suchen. Auch tauchen vermehrt konkrete Zahlen auf. Im Dezember 1971 berichtet der Philologenverband, dass an den Gymnasien im Land jede Woche 8000 Stunden wegen Lehrermangels ausfielen. Das Kultusministerium muss 1973 einräumen, dass knapp fünf Prozent der Mathestunden von vornherein wegen Lehrermangels gestrichen wurden. Ausfälle wegen Krankheit werden nicht beziffert.

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Die Idee der Stuttgarter Elternvertreter, die derzeit eine Art Recht auf Unterricht einklagen wollen, findet sich erstmals im August 1976 in der Zeitung: „So gröbliche Verletzungen der Unterrichtspflicht können Eltern und Politiker nicht mehr hinnehmen“, kommentiert die „Stuttgarter Zeitung“. Eine Lehrerversorgung von mehr als 100 Prozent fordert der Landeselternbeirat bereits 1980. Im selben Jahr berichtet die Zeitung über einen „geharnischten Brief“ der Eltern des Markgröninger Hans-Grüninger-Gymnasiums ans Kultusministerium, in dem vorgerechnet wurde, dass die Hälfte des Musik- und 43 Prozent des Religionsunterrichts nicht erteilt würden – solche Berechnungen sind damals noch eine Seltenheit.

Erst Lehrerschwemme, dann endlich: Zahlen

Das Großthema der 1980er ist die „Lehrerschwemme“. Bereits 1974 muss ein Vertreter des Bundesbildungsministeriums eingestehen, das Haus habe „furchtbar daneben gelegen“ mit seinen Berechnungen. 1982 erklärt die Lehrergewerkschaft GEW, nicht für mehr Lehrerstellen, sondern gegen deren Streichung einzutreten. In der Zeitung finden sich in diesen Jahren Bilder von demonstrierenden arbeitslosen Lehrern – und Meldungen wie jene aus dem Jahr 1989: „Im Kreis Böblingen fällt keine Stunde Pflichtunterricht aus“.

Doch immer noch fehlen öffentlich bekannte, belastbare Zahlen. „Wir führen keine Statistik“, wird 1997 ein Sprecher des Kultusministeriums zitiert. Erst infolge der ersten Stichprobe zum Unterrichtsausfall drei Jahre später verlagert sich die Debatte weg von Lehrerstellen, hin zum Anteil ausgefallener Stunden – und zu den Forderungen der Eltern, etwas dagegen zu tun. Aktuell antwortet die Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), sie könne gar nicht alle Stellen besetzen – wegen Lehrermangels.

Schon vor fünfzig Jahren klagt der Oppositionspolitiker Oskar Marczy (FDP) im baden-württembergischen Landtag: „Einmal heißt es, es gibt keine Stellen, ein andermal heißt es, es gibt keine Lehrer. Dieses Spiel muss endlich aufhören.“

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