Nadja Seipel ist todkrank. Wenn sie stirbt, hinterlässt sie eine minderjährige Tochter. In einem Hörbuch erzählt sie ihrem Kind von all den Momenten, an die es sich zu erinnern lohnt.

Mit dem Familienhörbuch hat die Journalistin Judith Grümmer ein Projekt ins Leben gerufen, das Müttern und Vätern mit einer tödlichen Krankheit die Möglichkeit gibt, spendenfinanzierte Hörbücher für ihre minderjährigen Kinder aufzunehmen. Auch die an Brustkrebs erkrankte Nadja Seipel aus Bad Schönborn (Kreis Karlsruhe) hat vor Kurzem an dem Projekt teilgenommen.

 

Wer Nadja Seipel begegnet, spürt schnell, wie viel Lebensfreude in ihr steckt. Die 46-jährige Frau mit den rot gefärbten Haaren und den sichtbaren Tattoos lacht viel, erzählt gerne, macht Witze und schmiedet Reisepläne für die Zukunft. Dabei ist sie todkrank.

Krebsdiagnose zwei Wochen zwei Wochen nach dem Start in den Beruf

Die Diagnose Brustkrebs erhielt sie im Herbst 2015, zwei Wochen nachdem sie ihre erste Stelle als Grund- und Werkrealschullehrerin angenommen hatte. Es folgten eine Chemotherapie und mehrere Operationen. Die Krankheit habe alles auf den Kopf gestellt, den Lebensmut verloren habe sie aber nicht. „Ich dachte, ich packe das. Ich hatte ja noch so viel vor mir“, berichtet die Mutter einer damals fünfjährigen Tochter unserer Zeitung.

Nadja Seipel erholte sich, ging wieder zur Arbeit, lief sogar einen Triathlon. „Ich galt als geheilt, und es ging mir gut“, sagt sie. Bis sich ihr Zustand im Herbst 2020 unerwartet verschlechterte: In dem Körper der jungen Frau hatte sich der Krebs unbemerkt ausgebreitet. Seitdem wird Nadja Seipel mit relativem Erfolg erneut therapiert. Die Behandlungen sorgen dafür, dass die Metastasen nicht weiterwachsen und Nadja Seipel sich besser fühlt – komplett genesen aber wird sie nicht.

Wenn Nadja Seipel stirbt, hinterlässt sie eine minderjährige Tochter. Damit erfüllt die Palliativpatientin die traurigen Kriterien für eine Aufnahme in das Projekt Familienhörbuch, das 2017 von der Medizinjournalistin Judith Grümmer ins Leben gerufen wurde.

Die Initiative ermöglicht es Elternteilen mit lebensbegrenzender Diagnose, ein professionelles Hörbuch für ihre minderjährigen Kinder aufzunehmen. Seit 2017 wurden 337 Mütter und Väter in das Projekt aufgenommen, bisher werden 479 Kinder mit einem Hörbuch aufwachsen.

Im Hörbuch geht es um Momente, an die es sich zu erinnern lohnt

Vor Kurzem hat auch Nadja Seipel ihr ganz persönliches Familienhörbuch erstellt. An vier Vormittagen traf sie sich mit der Audiobiografin Ute Roth in Wiesloch, die sie anhand von Fragen darin begleitete, ihre Lebensgeschichte zu gliedern und am Ende für jedes Kapitel die richtige Musik und eine passende Überschrift zu finden.

In dem Familienhörbuch erzählt Nadja Seipel ihrer Tochter von all jenen Momenten, die bewahrt bleiben sollen: von ihrer eigenen Kindheit und den wichtigen Menschen in ihrem Leben, von gemeinsamen Erlebnissen und Familienanekdoten. Aber auch von der Krankheit selbst und den Ängsten und Sorgen, die damit verbunden sind und die Nadja Seipel, so gut es geht, von ihrer Tochter fernzuhalten versucht.

„Ob und wann meine Tochter sich die traurigen Stellen anhören möchte, darf sie selbst entscheiden“, meinte Nadja Seipel, die ihrer 13-jährigen Tochter ein unbeschwertes Leben ermöglichen möchte. Auch Lebensweisheiten wie „Wenn du etwas gerne tust, dann kann es nicht falsch sein. Dann mach das, bleib dran und lass dich nicht von anderen abbringen“ stecken in Nadja Seipels Familienhörbuch. „Und am Ende habe ich ihr noch mal gesagt, wie sehr ich sie liebe und dass ich sie immer in meinem Herzen tragen werde“, erzählt sie über den letzten Tag der Aufnahme.

Trost aus der Stimme

Auf das Projekt aufmerksam wurde Nadja Seipel durch einen Palliativarzt. Die junge Mutter habe keinen Moment gezögert: „Ich dachte: Wenn sich meine Tochter an mich erinnern möchte, kann sie sich jederzeit Bilder von mir ansehen. Aber wie ich rede, das wird sie vergessen“, meint Nadja Seipel, für die das Familienhörbuch wie ein verbales Fotobuch ist. „Ich hoffe, dass meine Tochter Trost findet, wenn sie meine Stimme hört.“

Nicht nur für Familienmitglieder, auch für Teilnehmende des Projekts ist das Familienhörbuch heilsam. Das hat eine Studie aus dem Jahr 2019 ergeben, die 54 Patientinnen und Patienten zu ihren Erfahrungen rund um die Erstellung des Hörbuchs befragte.

Seit Juni 2022 wird das Familienhörbuch erneut wissenschaftlich begleitet: Forschende des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen Heidelberg (NCT) und der Klinik für Palliativmedizin des Uniklinikums Heidelberg möchten herausfinden, welche möglichen Auswirkungen die Aufnahme auf das psychosoziale Wohlbefinden der Teilnehmenden hat und ob sich das Erzählen der Lebensgeschichte positiv auf die Bewältigung der Krankheitssituation auswirkt.

Bei positiven Effekten könnte die Aufnahme eines Hörbuchs als therapeutische Leistung in die Regelversorgung aufgenommen werden, so die Idee hinter der Studie, die durch die Initiative „NCT Spenden gegen Krebs“ finanziert wird. Bisher werden die Kosten eines Hörbuchs, die sich auf 5000 bis 6000 Euro belaufen, durch Spendengelder finanziert, für Projektteilnehmer ist es kostenfrei.

Auf Pilgerreise nach Portugal

Für Nadja Seipel seien die Aufnahmetage zwar anstrengend gewesen, aber am Ende habe sie sich befreit gefühlt: „Ich bin beruhigt, dass ich meiner Tochter bestärkende Worte mitgeben konnte und unsere Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.“

Nadja Seipel hat ihrem Familienhörbuch den Titel „Leben und das Leben genießen“ gegeben. Es ist ein Spruch, der sie schon ihr ganzes Leben begleitet und den sie als Tattoo auf ihrem Arm immer bei sich trägt.

Zum ersten Mal anhören möchte sie sich das Hörbuch gemeinsam mit ihrer Tochter. „Aber erst, wenn die Zeit reif ist und es mir schlechter geht“, sagt sie. Wann das sein wird und wie es ihr dann gehen wird, können ihr derzeit auch die Ärzte nicht sagen. Sicher ist, dass Nadja Seipel die Zeit nutzen wird, die ihr bis dahin bleibt. Die nächste Reise ist bereits geplant: Diesen Sommer wird sie mit ihrer Tochter nach Portugal reisen, um dort gemeinsam ein Stück des Pilgerwegs Camino Portugues zu wandern.