80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs Deutschland muss seine Komfortzone verlassen
Achtzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs fürchtet sich Berlin noch immer vor einer Führungsrolle, kommentiert unser Redakteur Simon Rilling.
Achtzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs fürchtet sich Berlin noch immer vor einer Führungsrolle, kommentiert unser Redakteur Simon Rilling.
Stuttgart - Der Krieg beginnt mit einem Schwall von Lügen. „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“, erklärt Adolf Hitler am Morgen des 1. September 1939 wutschnaubend in Berlin. Kein Wort ist wahr, nicht einmal die Uhrzeit stimmt. Was folgt, ist eine Orgie der Gewalt, wie die Menschheit sie noch nicht gesehen hat. Achtzig Jahre sind seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vergangen. Europa ist zusammengewachsen, aus Feinden sind Freunde geworden – und selbst aus Deutschland eine Demokratie.
Die Deutschen sind in Europa angekommen. Deutschland hat seine Rolle auf dem Kontinent dagegen noch nicht gefunden – und weigert sich fast schon beharrlich danach zu suchen. Das war auch nicht nötig, solange die USA ihre Hand schützend über Europa hielten. Die deutsche Regierung hielt sich derweil mit Hinweis auf die Verbrechen der Jahre 39 bis 45 zurück, agierte im Hintergrund, stets bemüht, nicht zu laut, zu dominant aufzutreten, stets das Offensichtliche ignorierend – dass Deutschland nicht nur geografisch das Zentrum Europas ist. In all den Jahren hat Deutschland es sich in seiner Nische gemütlich gemacht. Das kann sich Berlin nicht mehr leisten. Und der Rest Europas auch nicht. Die USA haben nicht erst unter Donald Trump deutlich gemacht, dass sie nicht mehr gewillt sind, den Weltpolizisten zu spielen. „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“, sagte Kanzlerin Angela Merkel vor zwei Jahren nach einem Treffen mit dem US-Präsidenten. Ein für merkelsche Verhältnisse ungewöhnlich offener Satz, der in Deutschland aber nicht angekommen zu sein scheint.
Europa wird seine Probleme künftig selbst lösen müssen. Die Herausforderungen sind gewaltig: der Brexit, eine durch seine Fliehkräfte zerrissene EU und der Aufstieg der Populisten; Russland auf der Jagd nach vergangenem Glanz; China, das sich mit Hilfe westlicher Unternehmen anschickt, die USA und den Westen wirtschaftlich, technologisch und militärisch zu überflügeln, und im Südchinesischen Meer vor offener Machtpolitik nicht mehr zurückschreckt und die Welt vor vollendete Tatsachen stellt, indem es fremde Inseln besetzt und zu unsinkbaren Flugzeugträgern ausbaut.
Und wer ob der russischen Einmischung in den US-Wahlkampf empört ist, dürfte verblüfft sein, wie stark der Einfluss der Chinesen in der EU schon ist. Etwa durch Investitionen in Griechenland, das nach dem Einstieg Pekings – so ein Zufall – eine Verurteilung chinesischer Menschenrechtsverletzungen durch die EU verhinderte.
In Deutschland herrscht derweil der Irrglaube, dass wer recht hat, recht bekommt, und es vollauf genügt, auf die Menschenrechte und das Völkerrecht hinzuweisen, wenn irgendwo ein Konflikt ausbricht. Mit Idealen, Empörung und ein paar Sanitätern allein lassen sich solche Probleme aber nicht lösen. Putin pfeift auf die Empörung deutscher Politiker. Der Erfolg gibt ihm recht. Die Krim ist russisch, die Ukraine destabilisiert, ihr EU- und Nato-Beitritt in weiter Ferne. Die meisten Bundesbürger sind dessen ungeachtet für ein Ende der Sanktionen.
Deutschland muss seine Komfortzone verlassen und mehr Verantwortung in und für Europa übernehmen. Gegen Machtpolitik helfen keine frommen Wünsche. Wenn die EU das 21. Jahrhundert überleben will, braucht sie eine starke Mitte und keine zögerliche Führungsmacht, die sich versteckt, wenn es darauf ankommt. Das ist Deutschland Europa schuldig, nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Vergangenheit.
simon.rilling@stzn.de