Auf einem Blog schreibt die Stuttgarterin Merve Kayikci über ihre Lebenswelt als junge Deutschtürkin und Muslima. Die Erdogan-Affäre und das Bashing haben Mesut Özil eine medienwirksame Möglichkeit zum Rücktritt geboten, meint die 24-Jährige.

Stuttgart - Seit Mesut Özil am Sonntag seinen Rücktritt aus der deutschen Fußballnationalmannschaft medienwirksam verkündet hat, diskutiert gefühlt ganz Deutschland über Ressentiments und Rassismus gegenüber türkischstämmigen Mitbürgern. Tagelang dominierte die entfachte Debatte die Berichterstattung in den Medien und etliche deutsche Politiker und Prominente übertrafen sich im fast stündlichen Rhythmus mit neuen Statements zur Causa.

 

Die Studentin Merve Kayikci aus Stuttgart schreibt auf ihrem Blog „Primamuslima“ schon seit 2013 über ihre Erfahrungen als Deutschtürkin und Kopftuchträgerin. Für „ZEIT Campus“ veröffentlichte sie am Dienstag als Reaktion auf das Özil-Bashing den Kommentar „Wir undankbaren Deutschtürken“, der im Netz in kürzester Zeit tausendfache Reaktionen hervorrief.

„Die ganze Entwicklung von dem Foto mit Erdogan bis zum Rücktritt könnte auch eine raffinierte PR-Masche sein“, spekuliert Kayikci. Özil habe zwar das Ausmaß der negativen Reaktionen auf das Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinem Teamkollegen Ilkay Gündogan unterschätzt, muss sich aber bewusst gewesen sein, welches Signal die beiden Fußball-Profis aussenden. Die Bloggerin glaubt, der in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsene Mittelfeldspieler fühle sich wie viele andere türkischstämmige Deutsche schon vor dem Foto mit Erdogan unter den Generalverdacht gestellt, demokratische Grundwerte nicht zu teilen.

Özil ist in der Türkei beliebter als in Deutschland

Mögliche Gründe weshalb sich Özil auch in der Mannschaft nicht mehr wohl fühlte, könnten laut Kayikci die abnehmende Wertschätzung der deutschen Anhänger seit der Europameisterschaft in Frankreich, sowie das zunehmend fremdenfeindliche Klima in Deutschland sein. Die Studentin meint: „Özil genießt schon seit längerer Zeit eine größere Beliebtheit in der Türkei als in Deutschland.“ Während er sich früher in den sozialen Medien öfters auf Partys zeigte und mit Tattoos sowie Ohrringen keinen sehr religiösen Eindruck vermittelte, postete er im vergangenen Jahr ein Foto vom muslimischen Pilgerort Mekka. Für Kayikci unterstreicht auch die Veröffentlichung seiner dreigeteilten Stellungnahme in englischer Sprache, dass er sich von Deutschland abwendet.

Lesen Sie hier: Der Kosmos von Mesut Özil

Auch die wenigen Solidaritätsbekundungen seiner Mannschaftskameraden nach den persönlichen Anfeindungen könnten als Indizien für Özils schlechtes Standing im Team wahrgenommen werden. Die unverhältnismäßige Kritik nach dem Foto habe eine Möglichkeit geschaffen dem DFB medienwirksam den Rücken zu kehren. Das sei jedoch für das Zusammenleben und die Stellung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland kein Trumpf, schätzt die Bloggerin.

Unverhältnismäßige und heuchlerische Reaktionen

„Trotzdem ist es ein Zugewinn, dass jetzt offen über Rassismus in Deutschland gesprochen wird“, betont Kayikci. Als „unverhältnismäßig“ und „heuchlerisch“ empfindet sie die geäußerten Reaktionen, wie zum Beispiel von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Während die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Türkei und anderen menschenrechtsverletzenden Ländern kaum missbilligt werde, würde Özil aufgrund seiner türkischen Wurzeln verstärkt an den Pranger gestellt.

Lesen Sie hier: Die Özil-Debatte tobt auch in den Betrieben

„Vor der Weltmeisterschaft hat die deutsche Mannschaft noch mit Vielfalt geworben und jetzt hat sich der Wind gedreht“, sagt die 24-Jährige, die an der Hochschule der Medien Crossmedia-Redaktion studiert. Bei der ganzen Diskussion ist Kayikci aber froh, dass die Mehrheit der breiten Bevölkerung die Diskussion konstruktiv führt und den Rassismus gegenüber ihren deutschtürkischen Mitbürgern verurteilt.