Der EU-Kommissar Johannes Hahn fordert eine klare Beitrittsperspektive für sechs Länder auf dem Balkan. Die verbreitete Skepsis gegenüber einer neuen Erweiterungsrunde versucht er zu entkräften.

Berlin - Am Mittwoch und Donnerstag kommen in Bulgariens Hauptstadt Sofia die Staats- und Regierungschef der EU zusammen. Am Mittwoch steht das Iran-Abkommen im Zentrum der Debatte, am Donnerstag sechs Balkanstaaten, die eines Tages der Gemeinschaft angehören sollen. EU-Kommissar Johannes Hahn wirbt im Gespräch mit unserer Zeitung für die Eröffnung von Beitrittsgesprächen.

 
Herr Hahn, die Balkankriege haben in den Neunzigern die Schlagzeilen beherrscht, seither taucht die Region nur selten in unseren Nachrichten auf. Warum soll sich das ändern?
Zuerst einmal ist es eine gute Sache, dass der Balkan nicht mehr aus den von Ihnen genannten Gründen im Fokus steht. Aber es ist eben längst nicht alles gut dort, weshalb wir unser Engagement verstärken und eine echte europäische Perspektive bieten müssen, damit die Befriedung nachhaltig ist. Die EU hat die Wahl: Entweder wir exportieren Stabilität oder wir importieren Instabilität.
In Sofia soll nun den Balkanstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro und Serbien eine Zukunft in der EU aufgezeigt werden. Produzieren Sie da nicht Hoffnungen, die jäh zerstört werden könnten?
Bei diesem ersten Westbalkan-Gipfel seit 15 Jahren steht tatsächlich unsere eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Der Region wird seit langem eine europäische Zukunft in Aussicht gestellt, verwirklicht wurde sie jedoch höchstens zum Teil. Es ist aber eine moralische Verpflichtung unsererseits, die Einheit Europas zu vollenden. Ich verweise auf das Willy-Brandt-Zitat, wonach jetzt zusammenwächst, was zusammengehört – und das ist bei all diesen europäischen Ländern, die schon heute nur von EU-Staaten umgeben sind, eindeutig der Fall. Aber natürlich müssen die Länder selbst die europäische Perspektive Realität werden lassen, indem sie alle Bedingungen erfüllen und Reformen in den von uns besonders hervorgehobenen Bereichen – insbesondere Rechtsstaatlichkeit, Kampf gegen organisierte Kriminalität, gutnachbarschaftliche Beziehungen – umsetzen. Der Beitrittsprozess beruht auf Konditionalität und die Beitrittsoption wird auf Basis des Verdienstes jedes einzelnen Landes bewertet.
Vieles davon ist nicht neu, warum jetzt die neue Erweiterungsinitiative?
Die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen zeigen, dass wir Europäer viel stärker eine eigenständige Rolle zu spielen haben. Und ein Europa, das im Innern seine Bürger schützt und nach außen ein wichtiger Faktor in der Weltpolitik ist, muss politisch geeint sein und die Angelegenheiten vor der eigenen Haustür regeln können. Noch in den neunziger Jahren haben sich andere, insbesondere die Amerikaner, um den Balkan gekümmert, weil Europa dazu nicht in der Lage war. Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Nun sollten wir noch einen Schritt weitergehen.
Zu Europas Interessen könnte auch gehören, mit der Erweiterungszusage den chinesischen und russischen Einfluss auf dem Balkan zurückzudrängen?
Ja, es gibt globale Player, die versuchen, ihr Wirtschafts- oder Gesellschaftsmodell auf Europa oder Teile Europas zu übertragen. Das beobachten wir genau. Wir Europäer sollten damit aber selbstbewusster umgehen: Die Balkanländer treiben drei Viertel ihres Handels mit der EU, dem immer noch größten Handelsblock der Welt; allein Österreich hat in Serbien vier Mal so viel investiert wie Russland.
Ihre geostrategischen Überlegungen treffen auf riesige Skepsis gegenüber einer neuerlichen EU-Erweiterung. Nicht zuletzt in der Unionsfraktion gibt es viele Stimmen, die Beitrittsgespräche mit Albanien und Mazedonien als verfrüht bezeichnen und ablehnen.
Ich kann die Skepsis nachvollziehen, aber ich sage ja auch nicht, dass Albanien und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien bereits heute beitrittsreif sind. Die dafür notwendigen Reformen lassen sich aber am besten während des Beitrittsprozesses erreichen – dann ist unser politischer Hebel mit Abstand am größten. Nehmen wir das Beispiel Korruption. Von der Gesetzeslage her haben alle sechs Westbalkanländer eine Rechtslage, die unserer vergleichbar ist. Wir achten aber in Beitrittsgesprächen sehr genau darauf, dass die Gesetze auch angewandt, Korruptionsfälle wirklich vor Gericht gebracht und die großen Fische nicht verschont werden. Ohne Fortschritte in diese Richtung können wir Verhandlungen unterbrechen. Wir können den noch nicht genügenden Zustand der Rechtssysteme in Albanien und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien also nur überwinden, wenn wir in Beitrittsgespräche einsteigen.
Besteht nicht doch die Gefahr, dass die EU ungelöste Konflikte aufnimmt?
Wir haben als unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung unserer neuen Westbalkan-Strategie im Februar gesehen, dass zum Beispiel die Kosovaren plötzlich in der Lage waren, ihre jahrelange bilaterale Grenzfrage mit Montenegro zu lösen. Wir haben nämlich bereits klipp und klar gesagt, dass ein Land nur dann beitreten wird können, wenn es alle offene Konflikte mit seinen Nachbarn beigelegt hat. Da haben wir unsere Lektion aus den Fällen Zypern, Slowenien und Kroatien gelernt. Das ist eine klare Ansage aus Brüssel und allen anderen Hauptstädten.
Lässt sich die Kooperation nicht vertiefen, ohne gleich mit dem Beitritt zu locken?
Das machen wir doch parallel. Beim Gipfel in Sofia wird mit EU-Unterstützung die regionale Zusammenarbeit unter den sechs Ländern in den Bereichen Verkehr, Energie und Digitales massiv verstärkt. Wir geben den Startschuss für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, der später Teil des EU-Binnenmarktes sein könnte. Das schafft Arbeitsplätze, hält die Leute im Land und holt sie im Idealfall sogar wieder zurück. Echter Schwung kommt in die schwierigen Reformprozesse aber erst, wenn die Politiker auf dem Balkan wissen, dass ihre Anstrengungen eines Tages honoriert werden.
Unterstützt die Bundesregierung Ihren Erweiterungskurs?
Deutschland spielt eine wichtige Rolle in diesem Prozess. Die Bundesregierung mit der Kanzlerin an der Spitze ist eine engagierte Verfechterin einer europäischen Entwicklungsperspektive für den Westbalkan. Nicht zuletzt die Intensivierung der regionalen Zusammenarbeit geht auf den sogenannten Berlin-Prozess zurück. Aber die Bundesregierung braucht dafür natürlich die parlamentarische Unterstützung, für die ich gerade wieder im Bundestag geworben habe. Vom Europäischen Rat im Juni erwarte ich mir dann, dass wir als EU-Kommission den Auftrag bekommen, die Verhandlungen mit Albanien und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien vorzubereiten.
Auch eine Mehrheit im Bundestag ist kein Garant dafür, dass eine neue EU-Erweiterung die Europaskepsis in der Bevölkerung nicht weiter anfacht.
Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass eine EU-Erweiterung bei unseren Bürgern derzeit große Euphorie auslösen würde – wir haben diesbezüglich eine völlig andere Situation als Anfang der Nullerjahre. Deshalb müssen wir aufklären und erklären, warum es diese Beitritte geben sollte.
Gerne!
Die langfristige Stabilisierung des Balkan ist im ureigensten Interesse aller Europäer – sicherheitspolitisch, sozial und wirtschaftlich. Große Armut kann zu neuen Wanderungsbewegungen innerhalb Europas führen, umgekehrt würde ein wirtschaftlicher Aufschwung in der Region sie zu einem noch interessanteren Markt machen – dabei hat sich der Handel mit der EU in den vergangenen zehn Jahren bereits auf 46 Milliarden Euro verdoppelt. Als ich kürzlich im Schwarzwald Unternehmen besucht habe, wurde mir auch von Aktivitäten in Südosteuropa berichtet. Wenn sie direkt in der Nachbarschaft wachsen wollen, ist der Balkan eine der ersten Adressen. Das schafft und sichert Arbeitsplätze zuhause und trägt zur Absicherung des eigenen Wohlstands bei.