Winfried Kretschmann steht vor seiner zweiten Amtszeit als Regierungschef. Der Ministerpräsident hat die Grünen zur stärksten Partei in Baden-Württemberg und die CDU zu seinem Juniorpartner gemacht.

Stuttgart - Es lag ein Zauber in der Luft, als Winfried Kretschmann am 12. Mai 2011 im Landtag zum neunten Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg gewählt wurde. Ein Staunen, das jene, die diesen Vorgang als Demütigung empfanden, mit denen verband, die sich in einem Märchen wähnten. „Zwick mich“, sagten die Blicke, die sich die Grünen zuwarfen. „Das kann doch nicht wahr sein“, stöhnten die Christdemokraten. Immerhin stellten sie damals noch die stärkste Fraktion im Parlament; jedoch nicht mehr die Regierungsfraktion.

 

Nach dem Wahlgang begab sich Kretschmann zur Regierungsbank, wo er einsam verharrte; die Minister waren ja noch nicht vereidigt. Dort saß er dann, auf jenem Platz, auf dem schon Erwin Teufel, Lothar Späth oder Hans Filbinger gethront hatten – und von dem allgemein angenommen worden war, dass er allein den Christdemokraten vorbehalten war.

Mit Kretschmanns Wahl 2011 wurde Demokratie erlebbar

Winfried Kretschmann also. Sympathie begleitete den Grünen ins Amt, ein Wohlwollen, das getragen war von der Annahme, da schicke sich nach dem turbulenten Jahr mit dem CDU-Regierungschef Stefan Mappus ein redlicher Mensch an, das Land zu regieren. Viele empfanden den Machtwechsel nach fast 60 Jahren des CDU-Regierens als eine im positiven Sinn unerhörte Begebenheit. Demokratie wurde erlebbar. Wechsel war möglich. Winfried Kretschmann selbst sprach in Anlehnung an seine philosophische Muse Hannah Arendt von einem Wunder.

Fünf Jahre später stellt sich Kretschmann erneut zur Wahl des Ministerpräsidenten – abermals an einem 12. Mai und kurz vor seinem 68. Geburtstag. Wieder ist ihm so etwas wie ein Wunder widerfahren, auch wenn er diesmal deutlich mehr persönlichen Anteil daran hatte als fünf Jahre zuvor: Er hat die Grünen zur stärksten Partei in Baden-Württemberg und die CDU zu seinen Juniorpartner gemacht. Und doch ist diesmal vieles anders, und das liegt nicht nur an den Christdemokraten, von denen er allerdings weiß, dass sie ihm in ganz anderer Weise an den Kragen wollen, als er dies von der SPD jemals zu gewärtigen hatte. Auch die Sozialdemokraten hatten geraume Zeit gehofft, bei der Wahl 2016 an den Grünen vorbeiziehen zu können. Das erwies sich als Illusion weil sich auf Landesebene alle Aufmerksamkeit auf den Ministerpräsidenten richtet.

Der CDU-Mann Strobl sagt: Wir koalieren, wir fusionieren nicht

Doch verstand sich Grün-Rot als gemeinsames Reformprojekt. „Die sind immer im Paket aufgetreten“, berichtet ein führender Christdemokrat, „bis hinein in die Wahlkreise.“ Grün gleich Rot und Rot gleich Grün. Jedenfalls sah es nach außen hin so aus, nachdem sich der Streit um Stuttgart 21 gelegt hatte. Die Grünen gründeten einen Nationalpark, die SPD erfüllte den Personalvertretungen in der öffentlichen Verwaltung ein paar Wünsche, aber im Großen und Ganzen wurde Grün-Rot nach den Anfangsturbulenzen als aus einem Holz geschnitzt wahrgenommen.

Das werde mit Grün-Schwarz anders, sagt der CDU-Mann. Auch wenn es keinen Sinn mache, ständig im Kleinklein Konflikte zu suchen. Die CDU müsse über die großen gesellschafts- und bildungspolitischen Linien sichtbar werden. „Wenn wir nur als Konfliktkoalition herüberkommen, bringt das gar nichts.“ Der künftige Vizepremier Thomas Strobl sagte bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags, CDU und Grüne wollten nicht gegeneinander regieren. Klar sei aber auch: „Wir koalieren, wir fusionieren nicht.“

Als Politiker hat Kretschmann mehr erreicht, als er jemals hoffen durfte

Wenn Grüne und Schwarze also demnächst einträchtig bekunden werden, wie fruchtbringend sie regieren, in heiligem Ernst das Wohl des Landes erstreitend, so wird Kretschmann dennoch achtsam sein müssen. Auf die CDU und auf sich selbst. Auf die CDU, weil sie womöglich die Chance ergreift und sich im Bündnis mit den Grünen auf die Höhe der Zeit bringt. Kretschmann sieht das deutlich, er selbst sagte es dieser Tage in einem Interview: Wenn sich die CDU modernisiere, „wird das für uns Grüne ein Problem, weil etwas an Differenz schwindet“. Konservative mit urbaner Prägung, liberalem Einschlag und offenem Horizont könnten wieder fröhlichen Herzens CDU wählen. Ob auf der politischen Bühne aber Platz genug ist für zwei etwa gleich starke bürgerliche Semivolksparteien, die sich in der Mitte auf die Füße treten, das ist die Frage. Die mögliche Folge dieser „im besten Sinne bürgerlichen Koalition“ (Kretschmann): Die CDU bekommt ihre rechte Flanke nicht geschlossen, die Grünen verlieren jenen Teil ihres Anhangs, welcher die Ökopartei immer noch für eine eher linke Partei hält.

Kretschmann wird aber auch auf sich selbst achten müssen. Als Politiker hat er mehr erreicht, als er jemals hoffen durfte. Selbst wenn er vor der Wahl 2011 in versonnenen Stunden dem Tagtraum nachgehangen sein sollte, als Ministerpräsident aus einem dicken Mercedes auszusteigen, um unter den Klängen einer Blaskapelle auf eine Front von ehrerbietig lächelnden Würdenträgern – gerne auch christdemokratischen – zuzuschreiten, so konnte er niemals davon ausgehen, dass sich ein solches Begehren erfüllen könnte. Tat es aber.

Er wolle die kommenden fünf Jahre durchhalten, sagt Kretschmann

Und dann noch die Wiederwahl. Das führt zu der spannenden Frage: Kann so ein Mensch, der trotz eines offenkundig lange unterschätzten Machtwillens auch Anzeichen zeigt, Interessen jenseits der Politik zu verfolgen (Wandern, Lesen, Bohren und Schrauben – nur nicht Schweißen), die für das Amt nötige Spannung auch in den nächsten Jahren noch halten? Ein gutes Buch. Erleben, wie sich die neigende Sonne samten über das vom Geruch nach frisch gemähten Wiesen erfüllte Tal legt. Endlich wieder einen Tisch schreinern. Irgendwo wird immer ein Tisch gebraucht, was man nicht von jeder Akte sagen kann, die im Staatsministerium auf Kretschmanns Paraphe wartet.

Er wolle die kommenden fünf Jahre durchhalten, sagt Kretschmann. Sofern seine Gesundheit mitspiele. Das muss er sagen, will er nicht als „lame duck“ seine zweite Amtszeit beginnen und damit womöglich schneller beenden, als ihm lieb ist. Aber mag er wirklich durchregieren und damit dem nächsten Spitzenkandidaten der Grünen den Amtsbonus des Ministerpräsidenten vorenthalten? Kretschmann sei ein „Ganz-oder-gar-nicht-Typ“, sagt einer aus dem Kabinett. Halbe Sachen möge er nicht. Zudem habe der Ministerpräsident neue Freude an seinem Amt gewonnen, jetzt, wo er doch beweisen konnte, dass er eben „kein atomarer Unfall“ gewesen sei. Das hatte die Opposition lange Zeit glauben machen wollen und wohl auch selbst geglaubt: dass der eigene Machtverlust der Reaktorkatastrophe von Fukushima geschuldet war, Kretschmann eher zufällig in die Villa Reitzenstein stolperte und deshalb der Spuk so geschwind vorübergehen werde wie ein Sommergewitter. Nicht nur CDU und FDP sahen das so. Auch Kretschmanns liebster Parteifreund Jürgen Trittin neigte zu dieser Sicht der Dinge.

Die Nachfolgedebatte wird spätestens in zwei, drei Jahren kommen

Die nächsten zwei, drei Jahre mag sich der Ministerpräsident die Nachfolgedebatte vom Hals halten, doch die Nervosität in der Partei wird zunehmen. Wem gehört die Gunst des Regierungschefs? Wer läuft sich warm? Ein falsches Wort aus dem Staatsministerium, eine Schwächephase, und die Debatte ist da. Gut für Kretschmann: Noch drängt sich niemand mit Macht für die Nachfolge auf. Edith Sitzmann hat das Zeug für eine starke Finanzministerin; vielleicht ist für sie noch mehr drin. Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon entspräche am ehesten dem Leitbild eines grün grundierten bürgerlichen Politikers mit exekutiver Erfahrung, agiert aber schon seit fast 14 Jahren in Südbaden. Boris Palmer in Tübingen hat sich seiner Partei arg entfremdet. Er müsste raus aus der Krawallecke.

Und sonst? Die Grünen wissen, dass die CDU den Rückzug Kretschmanns als notwendige, womöglich hinreichende Bedingung für die Rückkehr ins Staatsministerium betrachtet. Sie werden den Christdemokraten das Gegenteil beweisen wollen. Für gewöhnlich überlassen es Parteien nicht ihren abtretenden Spitzenkräften, nicht einmal ihren Parteipatriarchen, die Nachfolgefrage zu regeln. Aber wer bei den Grünen wäre in der Lage, dies zu tun? Am Ende wird Kretschmann auch dies noch erledigen müssen.