Schlechte Zuschauerzahlen, enttäuschende Inszenierungen: Der „Turnaround“, den Armin Petras fürs schwächelnde Schauspiel versprochen hat, ist ausgeblieben. Auch im vierten Jahr seiner Intendanz bleibt das Haus weit unter seinen Möglichkeiten. Warum?

Stuttgart - Als letzte Premiere der jüngsten Saison hat das Stuttgarter Schauspiel die bittere Komödie vom „Menschenfeind“ gezeigt. Bitter bei diesem Molière waren auch die von Verletzungspech geprägten Produktionsbedingungen – und heraus kam Anfang Juli eine bunte, nur noch Spurenelemente des Komödienklassikers aufweisende Revue, deren problematische Entstehung die Schauspielerin Rahel Ohm in eine augenzwinkernde Conférence packte: „Und das halbe Team / macht schon wieder Urlaub in Berlin“ reimte sie, um auf offensichtlich heikle Last-Minute-Umbesetzungen hinzuweisen. Massenurlaub im noch laufenden Spielbetrieb? Wie hoch der Wahrheitsgehalt des Knittelverses anzusetzen ist, wissen wir nicht. Festzuhalten aber bleibt: Auch im vierten Jahr ist das Schauspiel von Armin Petras der Stadt, in der es arbeitet, kaum näher gekommen.

 

Die aufregendste Inszenierung fand deshalb auch nicht auf der Bühne des Theaters, sondern auf der Hinterbühne der Politik statt. Im November schlug Petras auf die Pauke: Er werde vorzeitig aus seinem bis 2021 laufenden Intendanten-Vertrag aussteigen und Stuttgart 2018 verlassen, aus familiären Gründen, wie er sagte. Dass aber seine unglücklichen Stuttgarter Erfahrungen ihren Teil zu diesem Entschluss beigetragen haben, mag man freilich nicht ganz von der Hand weisen. Denn auch in der Saison 2017/18 konnte das Schauspiel keinen Boden gut machen, am allerwenigsten beim Publikum: Nur 110000 Zuschauer fanden den Weg in die drei Spielstätten, die Auslastung sank auf 72 Prozent. So schlecht stand das Haus seit Jahrzehnten nicht da – und der „Turnaround“, den der Intendant zu Saisonbeginn in Aussicht gestellt hatte, blieb aus.

Sommerfarce, Volksstück, Gesellschaftsstudie

Verwunderlich ist das nicht. Um die Kartennachfrage zu erhöhen, hätte es ja einer spürbaren Qualitätssteigerung beim Angebot bedurft, was höchstens in musikalischer Hinsicht gelungen ist: Beim Rockliederabend „Chelsea-Hotel“ und beim live von den Nerven begleiteten Achtundsechzigerstück „Die Erfindung der RAF“ brummten Kammertheater und Nord. Aber in der Hauptspielstätte am Eckensee brummte fast nichts. Von den acht Premieren im Schauspielhaus fielen nur drei passabel bis gut aus. In aufsteigender Reihenfolge: Jan Bosses schwarzhumorige Sommerfarce „Arsen und Spitzenhäubchen“, Stefan Puchers hochpolitisches Volksstück „Kasimir und Karoline“ und, last not least, Stephan Kimmigs Society-Studie „Ehen in Philippsburg“, eine Uraufführung nach dem Roman von Martin Walser. Diese Inszenierung kam zum neunzigsten Geburtstag des Autors heraus, erinnerte an seinen unterschätzten, in Stuttgart spielenden Debütroman und zeigte in einer großen Ensembleleistung, dass das Gesellschaftsgetriebe der fünfziger Jahre auch heute noch läuft wie geschmiert. Das Schauspiel, das lehrte uns der Abend im März, hat noch immer Potenzial. Man muss es nur abrufen.

Dass sich aber ausgerechnet der Intendant schwer tut, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen, zeigte sich, als er im Februar die O’Neill-Tragödie „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ inszenierte. Die beiden Hauptrollen konnte er mit „Schauspielern des Jahres“ besetzen, mit Peter Kurth und Edgar Selge aus seinem eigenen Ensemble. Was für eine Chance, verlorene Zuschauer zurück zu gewinnen! Doch statt mit Selge und Kurth in die Tiefen der Charaktere, in die Abgründe einer Familienhölle zu steigen, versenkte er die Ausnahmespieler in einem gigantomanischen Titanic-Bühnenbild. Von der Papierform top, auf der Bühne ein Flop: diesem Muster gehorchten leider auch andere Aufführungen anderer Regisseure. All die Rüpings und Borgmanns, die andernorts hoch gehandelt werden, haben in Stuttgart erneut enttäuscht. Auch sie konnten die Potenziale nicht abrufen.

Die Aufsteigerin des Jahres: Lea Ruckpaul

Warum? Ist dem Haus der gemeinsame Geist abhanden gekommen? Hat man den Glauben verloren, etwas Großes schaffen zu können? Ist die Dramaturgie zu schwach? Oder der Intendant, der mit Kopf und Herz womöglich schon woanders ist?

Fest steht: Das Ensemble trägt am schleichenden Niedergang des Schauspiels, das in überregionalen Kritiken kaum noch vorkommt, keine Schuld. Glücklicherweise schaut man den Schauspielern noch immer mit Lust bei der Arbeit zu, vor allem den Frauen. In den „Ehen in Philippsburg“ brillierte Sandra Gerling mit ihrem an die Nieren gehenden, ins Herz greifenden Abtreibungsmonolog, während sich Lea Ruckpaul in „Ernst Bauers Sammelsurium“ als ungemein wandlungsfähig, in „Arsen und Spitzenhäubchen“ als umwerfend komisch erwies. Ruckpaul ist die Aufsteigerin des Jahres – und Birgit Unterweger, bedauerlicherweise, die Aussteigerin: Kaum hat sie in dem ansonsten verunglückten „Menschenfeind“ mit Charme, Chansons und Conférencen das Publikum um den Finger gewickelt, verlässt sie Stuttgart und geht dorthin, wo sonst das halbe Team Urlaub macht. Sie wechselt nach Berlin, ans Deutsche Theater, ebenso wie die am Gorki anheuernde Svenja Liesau. Und Matti Krause arbeitet künftig im Hamburger Schauspielhaus. Schade um diese Verluste!

Im September startet Petras nun in seine letzte Saison am Schauspiel. Was den Etat, die Werkstätten, die Proben- und Hauptbühnen anlangt, gehört das Haus noch immer zu den Riesen unter den deutschsprachigen Theatern. Aber dieser Riese döst seit Jahren wie gelähmt vor sich hin. Hoffentlich wird er bald wachgekitzelt – und nicht erst dann, wenn im nächsten Jahr der aus Mannheim kommende Burkhard Kosminski die Intendanz übernimmt. Er wurde im März zum Petras-Nachfolger gewählt: noch ein Saisonereignis, von dem man nur hoffen kann, dass es positiv zu Buche schlägt.