Über die Tafeln wird viel berichtet, selten aus der Innensicht. Alexandra Zipperer erzählt als von Armut Betroffene und sagt, was sie sich von der Politik wünscht.

Alexandra Zipperer hat als Kultur- und PR-Managerin, als Übersetzerin und Autorin gearbeitet, bevor sie zur Tafelgängerin wurde. Über ihre Erfahrungen dort hat sie ein Buch geschrieben.

 

Frau Zipperer, wie wurden Sie zur Tafelgängerin?

Ich habe eine schwere psychische und mehrere körperliche Erkrankungen und bin damit seit vielen Jahren berentet. Und da ich auch wegen der Erkrankung nicht lange genug arbeiten konnte, ist eben die Rente so niedrig, dass es ergänzend Grundsicherung gibt. Also, es geht mir wie den meisten bei der Tafel, sie sind aus Krankheitsgründen dort. Das heißt, krank werden ist fast gleichbedeutend mit arm sein.

Wem begegnen Sie in der Schlange bei der Tafel?

Es ist eine sehr, sehr heterogene Kundschaft. Viele Leute auch mit überraschend hohem Bildungsgrad und erfolgreichen Berufswegen, die eben durch Krankheit aus der Bahn geworfen worden sind, als Freiberufliche nicht genug Geld zur Seite gelegt oder keine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen haben. Vielleicht gibt es auch unter Hundert zwei, auf die das Vorurteil der Schmarotzer, die nicht arbeiten wollen, zutrifft. Und dann gibt es natürlich auch Leute, die mit löchrigen Schuhen, zerrissenen Klamotten und betrunken ankommen und randalieren. Aber das Gros der Tafelgänger entstammt der Mitte der Gesellschaft.

Alexandra Zipperer, Jahrgang 1965, lebt in Berlin, studierte Kunstgeschichte und war als Kulturmanagerin tätig, ehe sie krankheitsbedingt zur Tafelgängerin wurde. Ihr Buch: „Tafeln wie Gott in Deutschland“, Edition Schaumberg, 152 Seiten, 12 Euro Foto: Verlag

Was erfahren Sie in den Gesprächen?

Die Leute erzählen aus ihrem Leben, von ihren Familien. Es wird viel gescherzt, die Frage, ob heute der Wellnessbereich geöffnet ist, kleine Witzchen, um das alles erträglicher zu machen. Die Leute machen sich gegenseitig Geschenke, schenken ihren Freunden also aus dem vollen Trolley etwas, das sie gerade selbst geschenkt bekommen haben. Ein ganz wichtiges Ritual, das denkt man vielleicht gar nicht. Aber in dieser Lage können wir anderen keine Geschenke machen. Wenn ich zum Beispiel zum Geburtstag eingeladen bin, gehe ich nicht hin, weil ich kein Geschenk machen kann. Dann gibt man sich auch Tipps, wo etwas kostenlos zu bekommen ist, wo ein Umsonst-Laden aufgemacht hat, wie die neue Regelung im Sozialkaufhaus ist oder ob es wieder ein neues Gesetz gibt.

Also das, was Sie mit der wichtigen sozialen Funktion der Tafel als Treffpunkt beschreiben.

Ja. Ich kenne einen Mann, der verlässt seine Wohnung nur, um zur Tafel zu gehen. Er macht das seit 20 Jahren, und für ihn ist es das einzige Fenster nach draußen. Aber der würde sich vielleicht auch in ein normales Café setzen, wenn er das Geld hätte.

Die ersten Male haben Sie vor dem Gang zur Tafel vor Scham geweint. Ist es für Sie erträglicher geworden?

Irgendwann gewöhnt man sich ein bisschen, aber so richtig sexy wird es nie!

Sie gehen nun seit 15 Jahren zur Tafel, sprechen ironisch von Ihrer Tafelkarriere. Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert?

Viele meiner Freunde und Bekannten wussten das lange gar nicht. Wenn ich es aber erzählt habe, war es eigentlich so, dass das niemand auch genau wissen wollte. Das ist so ähnlich, wie wenn Leute von Krankheiten erzählen. Da will man nicht gerne drüber sprechen, weil man Angst hat, es könnte einen selbst erwischen.

Sie beschreiben das Engagement der Ehrenamtlichen, schließen sich aber der Kritik an, dass die Tafel die Armut verstetigt, weil sie die Aufgabe des Sozialstaats übernimmt.

Es geht mir auf keinen Fall um Kritik an der Tafel selbst. Ich bin da voller Dankbarkeit und Wertschätzung, auch wenn ich diese Art von Unterstützung nicht für den richtigen Weg halte. Es krankt eigentlich daran, dass der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt und seine Aufgabe auf eine private Initiative abwälzt, die überhaupt nicht in der Lage ist, diese zu übernehmen. Nur ein Beispiel: Als mein Freund Arno, er ist Heilerziehungspfleger, nach einer Tumoroperation in Hartz IV gerutscht war, hat er seine Sachbearbeiterin damals fassungslos gefragt, wie er denn von so wenig Geld leben solle. Die hat ihn nur angeschnoddert, er könne ja zur Tafel gehen.

Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Tafel verändert?

Immer mehr Bedürftige treffen auf ein abnehmendes Hilfsangebot. Ich erlebe an meinen Tafeldienstagen eine zunehmende Spendenknappheit. Das wirkt sich auch auf die Atmosphäre aus, die ist mittlerweile geprägt durch Konflikte zwischen den Bedürftigen und auch zwischen den Bedürftigen und den Ehrenamtlichen.

Die Qualität der Lebensmittel ist sehr unterschiedlich, berichten Sie. Von tadellosen Tomaten bis zur innen komplett verfaulten Ananas.

Ja, aber da kann die Tafel nichts dafür, man versucht an allen Ecken und Enden, Spenden einzutreiben, auch mal ein paar Päckchen Kaffee zu bekommen. Der ist zum Beispiel wirklich selten, manchmal als Extraspende.

Was was fordern Sie von der Politik?

Dass es in diesem Land kein Almosensystem geben darf, sondern eine staatlich-gesellschaftliche Lösung gefunden wird. Ich verfüge über 950 Euro im Monat. Nach Abzug all meiner Fixkosten, Miete, Versicherungen, Telekommunikation et cetera bleiben mir 100 Euro im Monat für Essen, Geschenke, Reparaturen. Es geht ja nicht darum, dass man ein erhöhtes Konsumlevel braucht oder um Luxusreisen oder teure Elektronik. Es geht um Leben in Würde, dass das möglich ist, und das ist im Moment nicht gegeben.

Sie schreiben, das System Tafel sei mittlerweile völlig überfordert durch eine ständig wachsende Zahl von Bedürftigen, und rechnen mit dem Kollaps des Tafelsystems.

Ja, das zeichnet sich ab. Das sind meine Erfahrungen vor Ort und das ist ja auch durch Zahlen belegt. Aber vielleicht liegt in diesem Kollaps ja auch eine Chance. Wenn das Almosensystem zusammenbricht, vielleicht wird es dann eine politische Lösung geben. Ich träume jedenfalls voller Zorn und Hoffnung von einer Welt ohne Tafeln in diesem reichen Land.