Wie wird die Architektur der Zukunft aussehen? Ein Formelement könnten asymmetrische Gitter sein, die traditionellen chinesischen Eisstrahlen-Gittern nachempfunden sind. Dass sie nicht nur optisch eine Augenweide sind, sondern auch über besondere statische Eigenschaften verfügen, hat jetzt ein chinesischer Forscher herausgefunden.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Geometrische Formen beherrschen den urbanen Raum. Moderne Städte bestehen aus Kuben und Polyedern, Prismen und Pyramiden. Divergierende architektonische Körper, die aus ebenen Teilen und Flächen gebildet werden – mal simpel, mal komplex. Eine ganz besondere Form der Baukunst stammt aus dem Reich der Mitte und erinnert an zerbrochene Eiszapfen. Ihren Ursprung hat sie in den „Binglei“, den traditionellen chinesischen Eisstrahlen-Gittern.

 

Architektur à la „Binglei“

Iasef Md Rian von der Xi’an Jiaotong-Liverpool University ( XJTL U) in Suzhou (ostchinesische Provinz Jiangsu) hat jetzt herausgefunden, dass diese Formen nicht nur optisch eine Augenweide sind, sondern sich auch durch ganz besondere statische Eigenschaften auszeichnen.

Weil die geometrischen Formen der „Binglei“ zufällig und asymmetrisch entstehen, können sie extrem hohen Belastungen standhalten. Das historische Design könnte deshalb in Zukunft für die Architektur als Grundgerüst für Dächer und Kuppeln eine sowohl ästhetisch als auch funktional wichtige Rolle spielen, glaubt der ehemalige Architekturprofessor Rian. Die Studie ist im Fachmagazin „Frontiers of Architectural Research“ erschienen.

In chinesischen Gärten manifestieren sich Eisstrahlen-Gitter

So sehen traditionelle chinesische Eisstrahlen-Formen in der praktischen Anwendung aus. Die Teller links kennt wohl jeder.  Foto: © Dr Rian (XJTLU)

Die Eisstrahlen-Gitter erinnern an die komplexen Muster von zerbrochenem Eis oder glasierter Keramik. Und tatsächlich symbolisieren sie das schmelzende Eis und den nahenden Beginn des Frühlings. Was auf den ersten Blick chaotisch, wahllos und zufällig aussieht, ist tatsächlich nach klaren geometrischen Regeln geordnet, wie Iasef Md Rian entdeckt hat.

„Chinesische Gärten haben eine natürlichere Anordnung in ihrem Grundriss und in ihrer Gestaltung. Das Design des Eisstrahlen-Fensters ist eine der Manifestationen davon“, sagt der Forscher. „So war ich sofort motiviert, die den Eisstrahlen-Mustern zugrunde liegenden geometrischen Prinzipien zu studieren.“

Fünf Typen von Fenstergittern

Den fünf Typen von traditionellen Fenstergittern liegen Rian zufolge jeweils eigene und doch zugleich ähnliche geometrische Regeln zugrunde. Es beginnt stets mit einem Quadrat als Grundform. Dieses wird dann in immer kleinere Drei- und Vierecke unterteilt, deren Proportionen unterschiedlich und teilweise asymmetrisch sind.

So sehen die Fenstergitter von traditionellen Bauten in China aus. Foto: © Yi Qian (XJTLU)

Am Ende entsteht ein zufälliges Muster, das von hoher Ästethik und außergewöhnlicher Statik ist. „Die zufällige Anordnung von Eisstrahlengittern sorgt für mehrwinklige Verbindungen, die das Fenster in eine Ansammlung aus resultierenden Kräften und gleichmäßiger Spannungsverteilung verwandeln, wodurch ein einzigartiger Grad an Steifigkeit erreicht wird“, erklärt Riam.

Eine solche Gitterstruktur ist nicht nur bei menschlichen Artefakten, sondern auch in der Natur zu finden – etwa in der Struktur unseres inneren Knochengewebes. Auch dieses besteht aus scheinbar wahllos angeordneten, schwammigen Knochenbälkchen – sogenannten Spongiosa. Rian: „Es bietet ein Gleichgewicht zwischen hoher Steifigkeit, die zur Belastbarkeit beiträgt, und einer erstaunlich leichten Struktur.“

Eisstrahlen-Geometrie für architektonische Gitterschalen

Das Fenstergitter-Design lässt sich in fünf verschiedene Typen unterteilen. Foto: © Dr Rian (XJTLU)

Die besonderen statischen Eigenschaften könnten dem Eisstrahlen-Gittermuster schon bald zu einer Renaissance verhelfen. „Ich erweitere die Anwendung dieses Musters auf gekrümmte Oberflächen“, erläutert Rian. Dadurch würden sich die Gitter in Zukunft auch als Trägerwerk für sogenannte Gitterschalen nutzen lassen – schalenförmige Konstruktionen, die zum Beispiel die Dächer von Stadien bilden.

Anwendungsbeispiele für Gitterschalen-Architektur sind die Kuppel des Reichstags in Berlin . . . Foto: Imago/Schöning
. . . und die Konstruktion des Nationalstadions in Peking. Foto: Imago/UIG

Gitter- oder Netzschalen werden in der modernen Architektur als räumliches Tragwerk eingesetzt,weil sie die statischen Eigenschaften einer Schale haben. Das bedeutet: Sie können enorme Belastungen sowohl vertikal als auch in ihrer horizontalen Ebene aufnehmen. Gewährleistet wird dies durch Biegung ebener Stäbe. Prominente Beispiele sind die Kuppel des Berliner Reichstags und die Konstruktion des Nationalstadions in der chinesischen Hauptstadt Peking.

Derzeit bestehen Gitterschalen in der Architektur aus symmetrischen, regelmäßigen Formen. Die asymmetrische Eisstrahlen-Geometrie von Iasef Md Rian könnte ihnen in Zukunft noch mehr Stabilität und Schönheit verleihen.