Die Selektion und Utro spielen im Esslinger Komma ein brutales Doppelkonzert. Da wird von Schmerz gesungen, Gewalt gegen Sachen ausgeübt - und das Publikum manipuliert. 

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Esslingen - Als das Kulturzentrum Merlin 2013 zur Eröffnung des Klinks-Festivals mit Die Nerven, Heisskalt und Die Selektion in die Wagenhallen lud, konnte man fast sicher sein, dass die drei Bands ihren Weg ins Business finden würden. Da standen drei Gruppen auf der Bühne, die alle noch ganz frisch waren, deren Unique Selling Point aber bereits deutlich erkennbar wurde.

 

Der Auftritt von Die Selektion im Esslinger Komma am Donnerstag bot Gelegenheit, sich noch einmal an diesen Abend vor viereinhalb Jahren zu erinnern und was aus den Bands geworden ist. Die Nerven bringen im April ihr neues Album raus und haben ihren Status als Kritikerlieblinge stabilisiert. Heisskalt, nach ihrem Play-Live-Sieg erstmals fürs Southside gebucht, bespielen auch dieses Jahr die Festivals und stehen bei Rock am Ring zum Beispiel im lesbaren Teil des Plakats. Die Selektion, um zur Band des Abends zu kommen, ist in den Untergrund gegangen, zumindest verglichen mit den beiden anderen Bands. Man sieht sie in Clubs und bei Gothic-Festivals, in der Region Stuttgart jedoch nur selten. Der einzige Auftritt 2017 fand im White/Noise statt.

Jetzt also das Komma, wo der Selektion-Sänger Luca Gillian immer wieder Konzerte veranstaltet. Er kennt hier jeden und weiß auch, wo die Sektflaschen stehen. Wie macht man aus einem solchen Heimspiel ein großes Konzert? Indem man einfach ganz bei sich ist, zumindest als Bühnenfigur. Gillian gibt wie immer den akkurat gescheitelten Gentleman, der allerdings auch zum rastlosen Umherirren auf der Bühne neigt. Neben ihm bedient Hannes Rief in Camouflage-Montur die Trompete. Die zum Duo geschrumpfte Band funktioniert, zwischen den Songs werden noch ein paar Details zum Sound ausgetauscht, ansonsten scheint die Show das normalste zu sein, das man auf einer spärlich beleuchteten Bühne zum Die-Selektion-Sound eben aufführt.

Musikalisch fühlt man sich circa im Jahr 1990. Der New Beat hat die Menschen schon abgestumpft, aber in all der Maschinenmusik steckt immer noch viel Gefühl - oder sollte man eher sagen: Schmerz? Luca Gillian ruft mit ganz viel Echo auf der Stimme düstere Parolen ins Mikro, denen man anhört, dass die Band derselben Ursuppe entstiegen ist wie Die Nerven. Der unerbittliche Beat und die eisigen Synthesizersounds erklären, warum so viele schwarz gekleidete Menschen im Publikum stehen. Was für Musik läuft eigentlich in Sadomaso-Darkrooms?

Und dann: Gewalt

Nachdem Gillian von der Bühne in die erste Publikumsreihe gewechselt ist, beginnt die zweite Hälfte dieses bald sehr bemerkenswerten Doppelkonzerts. Utro sind ein Nebenprojekt der russischen Band Motorama, die in Esslingen alles andere als unbekannt ist. In beiden Gruppen ist Vladislav Parshin die dominante Figur, schon wegen seiner Statur. Der Hühne aus der südrussischen Hafenstadt Rostov am Don erfüllt problemlos etliche Klischees: randlose Informatiker-Brille, teilnahmsloser Gesichtsausdruck, für alles ein bisschen zu groß gewachsen.

Sein Auftritt ist alles andere als eine unfreiwillige Freakshow, wie im Nachhinein klar wird. Gleich beim ersten Song bewegt sich Parshin, der seinem Schlagzeuger sonst konsequent den Rücken zuwendet, zum Drumset und haut ansatzlos auf das Becken. Immer wieder, wie aus heiterem Himmel: wiederum eine unbeholfene Geste, aber ein Ausdruck purer, unterdrückter Gewalt. Parshin wird, ähnlich wie der Zauberer in Thomas Manns Reisenovelle, sein Publikum während des Konzerts manipulieren - auf dass alles irgendwann herausbricht.

Der Utro-Frontmann und seine Band machen das subtil: mit irgendwie nervigen Bassfrequenzen oder einem treibenden, aber stets angespannten Schlagzeugspiel. Parshin singt, so sagt es zumindest eine des Russischen mächtige Zuhörerin, von Gewalt und Zerstörung - auf Russisch, versteht sich, mit viel Hall auf den vernuschelten Vocals. Man wartet dann so lange auf irgendeine Gefühlsregung im Gesicht der Musiker, dass man gar nicht merkt, wie sie die Intensität steigern. Simpelste Gitarrenläufe kommen dazu, der Keyboardton wird einen ganzen Song lang mittels Klebestreifen gehalten. Und irgendwann bricht das Publikum los. Moshpit, Besucher werden am Bühnenrand halb zerquetscht, Schweiß, verschüttete Getränke.

Zum Abschluss setzt Vladislav Parshin noch einmal seine Brille ab und drischt auf das Schlagzeugbecken ein. Man sieht noch mehr Brutalität gegen Sachen, aber keine Gesichtsregung. Die von Die Selektion besungene, lustvolle Gewalt wird dumpfe Realität. Dann, zisch, ist alles vorbei. Keine Zugabe. Es bleibt nur das ungute Gefühl, dass in Russland irgendwas ganz fundamental falsch läuft.


Mehr zum Pop in der Region Stuttgart gibt's bei kopfhoerer.fm - auch auf Facebook.