Mit amerikanischen Familiendramen von Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ bis zu „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von O’Neill erzählen Theater vom kapitalistischen Selbstoptimierungswahn. Es lassen sich auch Parallelen zwischen der Familie und den weltweit herrschenden Bürgerkriegen ziehen.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Er trägt einen Tüllrock in Stuttgart, einen Sportanzug in Hamburg, ein Westernhemd in Berlin, einen schlabbrigen Anzug in Köln. Willy Loman ist der Mann der Stunde auf deutschsprachigen Bühnen. Warum nur? Willy Lomans Verlierergeschichte, die Arthur Miller 1949 in dem Drama „Tod eines Handlungsreisenden“ erzählt, galt lange Zeit als das Stück, mit dem vorzüglich der Kapitalismus kritisiert werden konnte. Willy Loman schuftet sich krumm für all den Konsumkram, den man so braucht, und stirbt just in dem Moment, in dem er die letzte Rate für das eigene Haus abbezahlt hätte.

 

Kritik am Selbstoptimierungswahn

Doch die Zeiten, in denen solche Inszenierungen zumindest ein bisschen mit Revolutionslust verbunden waren, sind ja längst vorbei. Ein Systemwechsel ist unmöglich geworden, die kapitalistische Gesellschaft anscheinend alternativlos. Es kann auch keiner mehr diese Art Kritik mit dem Spruch kontern „dann geh halt nach drüben“ (für die Nachgeborenen: gemeint war die DDR, Planwirtschaft). Einige Zeit waren diese US-Familiendramen dann von den Spielplänen verschwunden. Was jetzt wieder entdeckt wird, ist der Aspekt der Selbstoptimierung – the pursuit of happyness –, das Streben nach Glück, das gefälligst Privatsache sein soll. Heute ist alle Welt ständig damit beschäftigt, sich auf Facebook und andernorts mit viel Engagement als schön und erfolgreich zu inszenieren. Der 1959 in Südkorea geborene, in Berlin lebendePhilosoph Byung Chul Han analysiert dieses Phänomen. In Büchern wie „Müdigkeitsgesellschaft“ zeigt er die Verfasstheit der westlichen Gesellschaft auf. Und konstatiert eine Tendenz zur Selbstausbeutung und krankhaften Positivität.

Ulrich Matthes spielt Willy Loman

Der Regisseur Bastian Kraft zeigt das in der Berliner Inszenierung am Deutschen Theater mit der schönen Idee der Beleuchtung: Manche Figuren (die Erfolgreichen) sind riesige Silhouetten an der Wand. Ulrich Matthes als Willy Loman steht wie ein Winzing klein in deren Schatten. Eine behauptete Positivität angesichts eines drohenden Kollapses, die einen ja auch immer an dem Handelsvertreter Willy Loman nervt.

Oder an der kompletten Familie, die Eugene O’Neills Stück von 1956 „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ bevölkert. Die Mutter ist definitiv ein Junkie. Der Ehemann und die Söhne, allesamt Alkoholiker, tun aber lange Zeit so, als stünde alles zum Besten. Weshalb es auch nicht unplausibel vom Regisseur Armin Petras war, die Dame des Hauses von einem Mann (Peter Kurth) spielen zu lassen, der trotz Handschuhen, Pumps und Kostüm eben einfach nur wie ein Mann in Frauenkleidern aussieht. Das Stück des US-Dramatikers O’Neill, das auch von Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg der bürgerlichen Mitte handelt, steht übrigens ähnlich oft auf auf den Spielplänen, darunter in Hamburg am Deutsches Schauspielhaus, prominent besetzt mit Charly Hübner und Lina Beckmann.

Seltener gespielt, doch ebenso von familiären und pekuniären Nöten handelnd, wird das Drama „Die kleinen Füchse“ (1941) der US-Autorin Lillian Hellman, zu sehen an der Berliner Schaubühne. Hier bekriegen sich Geschwister und Angeheiratete, es geht um alten und neuen Geldadel, um Macht. Thomas Ostermeier inszeniert die Schlechtheit der Menschen mit leichter Hand. Es wird viel gelacht angesichts des gegenseitigen bösen Belauerns, das Schauspieler wie Nina Hoss und Mark Waschke in dem schicken Villenbühnenbild zelebrieren.

Familie am Abgrund

Auch hier wird, nach der im Programmheft nachzulesenden Aussage des Intendanten und Regisseurs Ostermeier „anhand eines familiären Kosmos modellhaft die Erosion einer Gesellschaft vorgeführt, die von den Glücksversprechen des Ökonomischen getrieben wird“. Der Dramaturg Bernd Isele will es in seinen Auslassungen über den Stuttgarter O’Neill kaum weniger apokalyptisch klingen lassen: „Hinter der Seelenanalyse der Familie Tyrone steht eine Gesellschaftsanalyse der westlichen Welt: das Psychogramm derer, die im Licht wohnen, und derer, die im Dunkeln reisen.“

Nun könnte man dennoch fragen, sind das nicht Luxusprobleme in diesen Tagen, in denen die Welthütte brennt? In Theaterexperntenrunden werden oft genug mehr tagesaktuelle Relevanz, mehr Stücke über (oder mit) Geflüchteten eingeklagt. Haben die Bühnen also nichts Besseres zu tun als sich um diese Familiendramen zu kümmern? Nein! Sie haben nichts Besseres zu tun. Denn Dramen wie der „Tod eines Handlungsreisenden“ zu zeigen, ist schon so ziemlich das Beste, was sie tun können. Es sei denn, man wünscht sich mehr wirkliche Revolutionsstücke, die an die Möglichkeit erinnern, sich mal wieder ein paar Gedanken über eine Umwälzung aller Werte zu machen, so ganz grundsätzlich. Dennoch thematisieren solche Stücke das agonale Prinzip, das die Welt derzeit dominiert: Stasis, zu deutsch: Bürgerkrieg. Der Krieg mitten unter uns, in den Familien.

Bürgerkrieg und Familie

Hannah Arendt unterscheidet in ihrem Werk „Über die Revolution“ zwischen Revolution und Bürgerkrieg. Revolutionen seien die einzigen politischen Ereignisse, „die uns inmitten der Geschichte direkt und unausweichlich mit einem Neubeginn konfrontieren“. Sie seien kaum vergleichbar „mit dem Bürgerzwist, den wir als Stasis aus den griechischen Stadtstaaten kennen.“ Anders als die Revolution will der Bürgerkrieg am Ende keine komplette Umwälzung aller Werte. Der Philosoph Giorgio Agamben bezieht sich in seinem Buch „Stasis“ auf seine Kollegin Arendt und auf die Historikerin Nicole Loraux (1943-2003). Diese wiederum, so führt Agamben aus, interpretiere das Thema Bürgerkrieg mit Blick auf die Antike. Bürgerkriege seien so vieldeutig wie Familien: „Der Bürgerkrieg ist stasis emphylos, ein Konflikt, der dem phylon, der Blutsverwandtschaft, eignet: Er ist eng mit der Familie verwachsen. Der Begriff stasis emphylias – wörtlich die inneren Angelegenheiten des Stammes – bedeutet schlicht ‚Bürgerkrieg’.“

Die Familie, folgert Agamben, ist gleichermaßen Ursprung des Konflikts und der Stasis (des Bürgerkriegs) wie Paradigma der Versöhnung: „Die Griechen, schreibt Platon, ,kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen’.“ Sprich, in der Familie liegt der Konflikt zum üblen Blutvergießen, Terror, Tod, Vertreibung. Dort kann er womöglich wieder gelöst werden. Allerdings, blickt man auf die Kampfschauplätze der Welt und des Theaters – etwa das auf Untergangsängste anspielende „Titanic“-Bühnenbild von Alexandar Denic für den O’Neill in Stuttgart oder auf die beängstigend riesigen Schatten, die die kleinen Menschen im Berliner „Handlungsreisenden“ an die Wand werfen, scheint sich auch das Theater vor allem nur noch als demoralisierende Anstalt zu verstehen.

Termine

Arthur Miller „Tod eines Handlungsreisenden“ Deutsches Theater Berlin: 5. Januar. Thalia Theater Hamburg: 2., 17. Januar. Schauspielhaus Stuttgart: 3. Januar, 9. Februar.

Lillian Hellman „Die kleinen Füchse“ Schaubühne Berlin: Termine im März.

Eugene O’Neill „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ Deutsches Schauspielhaus Hamburg: 2. Januar (ausverkauft), weitere Termine sind geplant. Bayerisches Staatsschauspiel München (Cuvilliéstheater): 19., 21. Januar. Schauspiel Stuttgart: 8. Januar, 24. Februar.