Dass das Alkoholverkaufsverbot endlich gekippt wurde, findet Stadtkind-Autor Björn Springorum gut. Dass es ausgerechnet an diesem Wochenende geschah, eher weniger.

Stuttgart – Manchmal überschlagen sich die Ereignisse förmlich. Da war man doch glatt so sehr mit dem (wie immer vollkommen überraschenden) Wintereinbruch und den locker zwei Zentimeter Neuschnee im Kessel (und bei Instagram) beschäftigt, dass man zwei revolutionäre Einschnitte im Leben eines jeden Stuttgarters verpasst hat. Die Rede ist allerdings weder von Stuttgart 21 (oder 22) noch von diesem Schreckgespenst namens Döner-Verbot, das hoffentlich bald wieder verblasst. Nein, nein. Die Rede ist vom gekippten Verkaufsverbot für Alkohol nach 22 Uhr und der relativ umfangreichen, enervierenden, verwirrenden, vorübergehenden Fahrplanumstellung der SSB.

 

Ich will trinken, wann ich will

Das ist einerseits ein Grund zur Freude, andererseits eine ziemliche Herausforderung. Freude nicht nur unbedingt deswegen, weil ich endlich wieder nach zehn ein Bier zu meinen Kippen an der Tanke oder im Supermarkt bekomme. Schließlich kann man auch einfach in einer Kneipe trinken. Nein, Freude vor allem deswegen, weil dieser reichlich undurchdachte Plan, die Jugendlichen durch dieses Verkaufsverbot von der Flasche zu kriegen, legendär nach hinten losgegangen ist.

Noch dazu hat das Verbot abertausende mündige Bürger mit Bierdurst für unreif erklärt und ihnen vorgeschrieben, wann sie zu trinken haben. Liebe Politiker, wenn ich nach 22 Uhr unbedingt noch einen Chantré zu meinen Erdnussflips und dem Kreuzworträtselheftchen von der Tanke will, dann sollte ich den meiner Meinung nach auch bekommen. Mal ganz zu schweigen von strategisch wichtigen Tanken in Stadionnähe, wo man seinen Frust sehr gern auch nach 22 Uhr in irgendwas ertränken möchte. Obwohl Frust bekanntlich ein besserer Schwimmer ist als die Abwehr des VfB, nun ja, abwehrt.

Verloren im Charlottenplatz

Um mal auf die oben erwähnte Herausforderung zu sprechen zu kommen: Es war nämlich auch eine ziemliche – Kalauer – Schnapsidee, diese beiden Umstellungen auf ein und dasselbe Wochenende zu legen. Es ist für manche ja schon an einem ganz normalen Werktag sehr schwer, sich beim Umsteigen am Charlottenplatz nicht hoffnungslos zu verirren oder gleich auf Anhieb die richtige Bahn ins Wizemann zu erwischen.

Mit der Möglichkeit, vor der nächtlichen U-Bahnfahrt noch das eine oder andere alkoholhaltige Erfrischungsgetränk von der Tanke zu genießen, verwandelt sich der Charlottenplatz mit all den neuen Linien aber ganz schnell in eines dieser albtraumhaften Bilder des Malers Escher. Das ist dieser irre Typ, der uns mit unmöglichen geometrischen Formen, mit ins Nichts führenden Treppen und dimensionalen Verwirrungen foltert. Und auf dem Weg ins Wizemann landet man wahrscheinlich in Vaihingen. Enz!

Zwar ist mir nichts bekannt von verschollenen Nachtmenschen, die immer noch hilflos mit der langen U12 von Endhaltestelle zu Endhaltestelle fahren oder nach tagelangen Irrwegen durch die Labyrinthe des Charlottenplatzes zerzaust im Wikinger auftauchen, die Augen wild von dem erlebten Horror; dafür gab es am Montagmorgen in den Bahnen des Stuttgarter Westens auch ohne alkoholische Unterstützung reichlich ratlose Gesichter. U29? U34? Nie gehört! „Und wie komm ich jetzt zum Hauptbahnhof?“ - „Ha, laufen!“ - „Super, und bei Feinstaub gibt‘s auch nix mehr billiger!“

Ja, es wird nie langweilig in Stuttgarts Öffentlichen. Vielleicht ist das gekippte Verkaufsverbot deswegen auch als Zugeständnis an die leiderprobten Fahrgäste zu verstehen: Die S-Bahn hat leider 90 Minuten Verspätung oder fällt erst mal ganz aus. Wegen eines Ballons oder so was. Aber hey, am Kiosk da hinten bekommst du auch jetzt noch ein Bier!