Der damals erst 28-jährige Niels Bohr revolutionierte unsere Vorstellung vom Aufbau der Welt: Elektronen kreisen um Atomkerne und können von einer Umlaufbahn in die andere springen. Es war das letzte Atommodell, das sich Nichtphysiker noch vorstellen können.

Stuttgart - Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand fest: das Atom ist nicht das, was sein Name sagt. „Atomos“ heißt auf Altgriechisch „das Unteilbare“. Doch Atome, das war klar geworden, können zerfallen. Wie muss man sich also den Aufbau eines Atoms vorstellen? Binnen weniger Jahre änderte sich das Bild der Physik vom Aufbau der Materie dramatisch. Einen der wichtigsten Schritte tat der dänische Physiker Niels Bohr vor genau hundert Jahren. Mit dem Datum 5. April 1913 ist ein Aufsatz Bohrs unterzeichnet, der in der Juliausgabe der Fachzeitschrift „Philosophical Magazine“ erschien. Der Aufsatz machte den noch nicht einmal 28 Jahre alten Bohr zu einem berühmten Mann und zum Zentrum der Entwicklung eines ganz neuen Bilds der atomaren Welt: der Quantenphysik.

 

Bohr baute auf der Erkenntnis seines Lehrers auf, des britischen Physikers Ernest Rutherford, dass das Atom kein Rosinenkuchen ist. Es ist kein Kügelchen mit elektrisch positiver Ladung, in dem negative Elektronen stecken wie Rosinen in einem Kuchen. Rutherford hatte mit zwei Kollegen bereits ermittelt, dass sich positive Ladung eines Atoms auf einen winzig kleinen Kern im Zentrum konzentriert. Die Rosinen mussten sich irgendwie außerhalb des Teigklumpens aufhalten. Doch wie?

Bohrs Atom ist ein Planetensystem. Es hat eine Sonne, das ist der Atomkern, in dem die Protonen sitzen. Und es hat einen oder mehrere Planeten, das sind die Elektronen, die weit außen um den Kern kreisen. Das Miniplanetensystem schwirrt bis heute in den Köpfen vieler Menschen herum. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es das letzte Bild eines Teils der atomaren Welt war, das auch ein Nichtphysiker sich noch vorstellen kann.

Bohrs Frage war: Warum stürzen die Elektronen nicht ab?

Das Planeten-Atom erklärte zwar die Experimente von Rutherford, aber den Physikern war klar, dass es nicht funktionieren kann. Ein elektrisch geladenes Teilchen, das sich auf Planetenbahnen bewegt, ist ein Sender. Es strahlt permanent Energie ab und müsste nach einiger Zeit in den Kern stürzen. Bohrs Frage war: Warum sind Atome stabil? Seine Antwort war der Anfang der Quantentheorie. Und sie erklärte beinahe nebenbei ein weiteres Phänomen. Es war bekannt, dass Atome Energie aufnehmen und wieder abstrahlen können. Physiker hatten festgestellt, dass Atome, wenn sie strahlen, nicht, wie die Sonne, ein breites Lichtspektrum von Rot bis Violett aussenden, sondern schmale Linien von nur einer oder wenigen Farben. Welche Linien sichtbar wurden, war bei jedem chemischen Element anders. Das Linienspektrum ist ein Fingerabdruck, an dem Astronomen bis heute erkennen, welche chemischen Elemente auf fernen Sternen oder Planeten zu finden sind.

Bohr griff eine Idee des deutschen Physikers Max Planck auf. Der hatte erkannt, dass Energie in kleinen Paketen daherkommt, den Quanten. Bohr nahm das ernst und sagte: Elektronen können um den Kern des Atoms nur in solchen Planetenbahnen kreisen, auf denen ihre Energie in Plancks Quanten-Hypothese passt. Ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Energie geht nicht. Also können sie auch keine beliebig kleine Mengen Energie abstrahlen. Das Elektron kann nur in eine andere Bahn springen, wenn diese Bahn um genau einen Quantensprung höher oder tiefer liegt. Das heißt: es kann nur fest definierte Mengen Energie aufnehmen und dann höher hüpfen oder eine fest definierte Energiemenge abstrahlen und dabei auf eine tiefere Bahn fallen. Solange es nicht genau ein Quant loswerden oder irgendwo aufschnappen kann, ist das Atom stabil und strahlt nicht.

Bohr begann seine Berechnungen mit dem einfachsten Atom, dem Wasserstoffatom, das nur aus einem positiven Proton und einem negativen Elektron besteht. Seine Berechnungen ergaben korrekt die Spektrallinien, die Wasserstoffatome ausstrahlen. Nachfolgend konnten er und seine Kollegen fast alle Linien berechnen, die in den Spektren chemischer Elemente gemessen worden waren.

Im Laufe der Jahre gelang es, den Aufbau aller Atome und damit den Aufbau des Periodensystems der Elemente zu erklären. Die Natur, so hatte Bohr festgestellt, macht Sprünge – Quantensprünge. Doch er hatte auch eine beruhigende Botschaft. Von ihm stammt das sogenannte Korrespondenzprinzip: die Quantensprünge sind so klein, dass man sie in der Alltagswelt nicht bemerkt. Die klassische Physik bleibt richtig, weil die Quanten in ihr keine Rolle spielen. Doch in der Quantenwelt, das hat man bald gemerkt, ist es noch zu einfach gedacht, Elektronen als kleine Planeten zu sehen: Dort hat sich die Theorie inzwischen weit von dem entfernt, was im Alltag als anschaulich gilt.