Vor exakt 100 Jahren begann das große Sterben. Der Vogesengipfel Hartmannsweilerkopf gibt ein Beispiel für die Sinnlosigkeit dieses Krieges. Doch den heutigen Besuchern ist es fast unmöglich, den Wahnsinn von damals zu begreifen.

Mulhouse - Die Sonne brennt. Unten weitet sich das Rheintal. Drüben, über dem Schwarzwald, bauen sich Quellwolken auf. Es ist ein Bild zum Malen. Eine Familie picknickt und genießt das Panorama auf dem Aussichtsfelsen im Osten des Hartmannsweilerkopfes. Die Mutter liest den Kindern derweil aus dem Reiseführer vor, wie die Soldaten sich damals den Abhang emporgekämpft haben.

 

Am Hartmannsweilerkopf im Elsass starben im 1. Weltkrieg wahrscheinlich rund 30 000, nach andern Schätzungen bis zu 60 000 Soldaten, deutsche und französische. Sie sind nicht gefallen. Sie wurden durch Artilleriegranaten zerfetzt, sie wurden von Scharfschützen getötet, sie verreckten im Giftgas, sie krepierten elendig. Ruhr, Cholera und Typhus grassierten. Von denen, die überlebten, wurden rund 100 000 zu Krüppeln oder sie wurden wahnsinnig.

Gestank aus Schützengrabensumpf war das Schlimmste

Der Hartmannsweilerkopf war ein Nebenkriegsschauplatz ohne große strategische Bedeutung an einem vergleichsweise ruhigen Abschnitt der Front. Die meisten Opfer kamen in den Monaten zwischen Dezember 1914 und Dezember 1915 ums Leben. Danach wurde es bis zum Kriegsende 1918 ruhiger.

Eine Idylle, in der Zehntausende von Soldaten starben. Foto: picture alliance

Nein, es stinkt heute am Hartmannsweilerkopf nicht nach Fäkalien und Leichen; die Blumen duften. Wer den Krieg riechen will, muss in den Keller des Stuttgarter Hauses der Geschichte gehen. In der Ausstellung „Fastnacht der Hölle“ stehen dort zwei Glasflaschen mit den Gerüchen der Verwesung und des Giftgases. Aber man riecht auch dort kaum noch etwas, die Glasstopfen wurden zu häufig geöffnet. Die Soldaten schrieben damals nach Hause, der Gestank aus dem Schützengrabensumpf sei mit das Schlimmste.

Oben auf dem 956 Meter hohen Berg der Vogesen ist es heute idyllisch ruhig. Unten, im Stuttgarter Museumskeller, kann man den Krieg hören. Aber man hört dort auch nicht mehr als Theaterdonner. Das ständige Trommelfeuer des Artilleriebeschusses trieb damals Soldaten in den Wahnsinn. Im Haus der Geschichte soll man den Krieg auch schmecken können, in Form von winzigen Stücken des Kriegszwiebacks; der schmeckt auch nicht viel anders als der von Brandt. Die Soldaten damals hatten auf beiden Seiten vor allem mit dem Durst zu kämpfen. Weil nicht genügend Frischwasser herangeschafft werden konnte, tranken sie vergiftete Brühe. Heute wird am Hartmannsweilerkopf elsässischer Wein zu gehobenen Preise verkauft.

Die Natur erobert sich zurück, was der Mensch verändert hat. Viele der rund 90 Kilometer Schützengräben an den Bergflanken sind überwuchert, etliche inzwischen gesperrt. Moos verbirgt den Beton der Bunker. Stacheldrahtverhaue rosten vor sich hin. Rund 600 Unterstände und Festungen soll es geben. Der Berg ist löchrig wie ein Ameisenhügel; es existieren zahllose und weitverzweigte Stollen.

Die Anlagen verfallen. Foto: picture alliance

Der 1. Weltkrieg ist Geschichte. Er ist sehr weit weg; hier am Hartmannsweilerkopf an diesem sonnigen Sommertag womöglich noch ein bisschen weiter als anderswo. So ähnlich wie die Gräben hier sehen auch die Wehrgänge großer alter Ritterburgen aus. Und so werden sie heute auch besichtigt, vor allem von den Kindern und Jugendlichen: manchmal neugierig, oft fröhlich und stets unbefangen. Wie denn auch sonst? Niemand, der heute in Europa lebt, kann die Hölle des 1. Weltkriegs begreifen und nachvollziehen. Wer eine Ahnung davon bekommen will, sollte am ehesten die Radierungen „Der Krieg“ von Otto Dix aus dem Jahr 1924 im Stuttgarter Kunstmuseum studieren. Er kann auch „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque aus dem Jahr 1928 noch einmal lesen. Da steht bereits alles Notwendige drin. Offenbar bedarf es der Verdichtung durch einen Künstler, um dem Unbegreifbaren näherzukommen.

Der Kampf war sinnlos

Die Deutschen haben selbst am Hartmannsweilerkopf noch besonders gründlich und akkurat gebaut. „Schwabenheim“ steht über dem Eingang eines Unterstandes. Vom großen Kompressor sind in einer Höhle noch die Grundplatten zu sehen. Druckluft wurde für die Bohrmaschinen beim Tunnelbau benötigt, aber auch für die Pressgasminenwerfer, die schwer zu orten waren. Mit Geophonen wurden die leisesten Geräusche im Boden geortet und abgehört. Es gab eine Seilbahn. Geändert haben all diese technischen Leistungen nichts. Acht Mal wechselten auf der Kuppe die Machthaber. Der Kampf um den Hartmannsweilerkopf war völlig sinnlos.

Unterhalb des Aussichtsfelsens steht das verlogene, weil heroisierende Denkmal des Kriegsbildhauers Victor-Charles Antoine, der glauben machen will, der Einsatz und das Leiden des 152. französischen Infanterieregiments am Hartmannsweilerkopf, das Sterben der Soldaten, habe eine höhere Bedeutung gehabt und sei deshalb des Ruhmes wert. In Deutschland gibt es vergleichbare Denkmäler.

Viele Toten blieben ohne Namen. Foto: dpa

Westlich des Schlachtfeldes liegen das Nationalmonument und der französische Soldatenfriedhof. Auf dem Friedhof sind 1256 namentlich bekannte und 384 nicht identifizierte französische Soldaten bestattet. In der Gruft des Nationalmonuments liegen die Gebeine von 12 000 unbekannten Soldaten. Es ist eines von vier französischen Nationaldenkmälern zum 1. Weltkrieg. Den Eingang zur Krypta flankieren zwei „Siegesgöttinen“, auf dem Dach der Gruft, der großen Esplanade, steht ein „Altar des Vaterlandes“. Die unpersönliche, streng geometrische und so pathetische Anlage mit dem sorgfältig gestutzten Rasen will die Besucher überwältigen. Sie behauptet einen Sinn, der nicht existiert. Sie lässt keinen Raum für das Elend, für das Leid, für das Individuum. Sie symbolisiert das genaue Gegenteil zu dem, was wenige Hundert Meter östlich geschah, zur „Fastnacht der Hölle“.

Übermorgen, am 3. August, wird am Hartmannsweilerkopf sehr viel Polizei sein. Mittendrin werden der französische Präsident Francois Hollande und sein deutscher Amtskollege Joachim Gauck stehen und der Kriegserklärung vor hundert Jahren gedenken. Die beiden werden Teil einer Inszenierung von Realpolitik im Jahre 2014 sein. Gauck wird an das Damals erinnern, das Heute beschreiben und auf die Lehren verweisen, die daraus zu ziehen sind. Journalisten, die mit ihm einfliegen, werden überlegen, welche Schlagzeile sie daraus destillieren können. Fotografen werden ein ernstes Staatsoberhaupt fotografieren, so wie sie jüngst einen jubilierenden Gauck inmitten einer Gruppe junger Fußballer fotografiert haben. Und die Fernsehleute werden prüfen, ob das Bildmaterial für einen Film von 1.30 Minuten ausreicht oder ob es bei einer Meldung mit Standbild bleibt. Danach wird es gleich weiter nach Belgien gehen.

Bombast statt Nachdenklichkeit Foto: picture-alliance
Von Montag an haben die Touristen den Hartmannsweilerkopf dann wieder für sich. Angeblich 200 000 Besucher pro Jahr halten an der Straße vor dem Friedhof und besuchen das Monument. Man kann schon fragen, weshalb? An diesem Sommertag sind die Franzosen unter sich. Nur eine Minderheit läuft weiter bis zu den Schlachtfeldern. Erster Anlaufpunkt ist die überdimensionale französische Nationalflagge. Sie ist das Symbol und das Ziel, nicht nur für die Fotografen.

Derweil ziehen aus Deutschland wieder Männer in einen Krieg, diesmal im Irak – in einen Krieg, der für sie als Islamisten ein heiliger ist.