Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Die Auswirkungen auf den Finanzmärkten hätten mit realer Wertschöpfung „überhaupt nichts zu tun“, legte Lammert nach. „Dahinter steckt keine Substanz“, es sei eine „eingebildete“ und „simulierte Wertschöpfung“ – eine harte Anklage des zweithöchsten Mannes im Staat ausgerechnet am Finanzplatz Frankfurt. Dies könne nicht so bleiben: Nötig sei eine „Wiederherstellung der staatlichen Aufsicht und Wettbewerbskontrolle“. Die Verursacher der Finanzkrise könnten dies nachweislich nicht. „Was in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten stattgefunden hat, stand in privatwirtschaftlicher Verantwortung und wurde bei Überforderung an den Staat weitergereicht“, ätzte Lammert. Es gebe Handlungsbedarf mit praktischen und ethischen Dimensionen – dabei seien auch die Sozialpartner gefordert. Wobei er ähnlich wie die Gewerkschaft auf mehr Mitbestimmung setzt: Es sei nicht „der Weisheit letzter Schluss“, dass etwa das Modell der sogenannten Montanmitbestimmung in Bergbau-, Eisen- und Stahlindustrie „in die Geschichtsbücher wandert“.

 

IG-Metall-Chef: Arbeitszeitpolitik wird dominant

Zuvor hatte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann auf die Ungerechtigkeiten hingewiesen: Zwar sei das allgemeine Wohlstandsniveau heute deutlich höher – „das Maß der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland ist dagegen seit 125 Jahren faktisch gleich geblieben“. Daher warnte der Vorsitzende: „Wir dürfen nicht einer Wohlstandsillusion verfallen.“ Die sozialen Unterschiede „wachsen sogar wieder“. Der Niedriglohnsektor sei mittlerweile der größte in Europa, was auch das Ergebnis politischer Entscheidungen sei. Das Einkommen der Eltern bestimme stärker als seit Jahrzehnten wieder die Chancen der Kinder auf Bildung.

Der Gewerkschaftschef blickte voraus: Bei neuen Entwicklungen wie der Industrie 4.0 gehe es auch um den Sozialstaat 4.0. Dabei werde die Neuausrichtung der Arbeitszeitpolitik eine wichtige Rolle spielen. „Viel zu lange haben wir sie nicht auf der Agenda gehabt“, sagte Hofmann. Sichere Arbeitszeit heiße vor allem planbare Arbeitszeit. Und gerechte Arbeitszeit bedeute: Vergütung jeder geleisteten Stunde, „auch wenn zu Hause oder in der S-Bahn gearbeitet wird“. Denn „Flexibilität kann nicht heißen: Paradies für den Arbeitgeber – Hamsterrad für die Beschäftigten.“ Es müsse mehr selbstbestimmte Arbeitszeit geben, die Platz für individuelle Anforderungen wie Kindererziehung, Pflege oder berufliche Weiterbildung schaffe.

Arbeitgeberchef: Beziehungen waren stets belastbar

Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger wollte die Jubiläumsstimmung nicht stören: Er lobte die von Arbeitgebern und Gewerkschaft gelebte Tarifautonomie als „unverzichtbare Säule der sozialen Marktwirtschaft“. „Die Beziehungen waren nie konfliktfrei, aber immer belastbar.“ Sie seien vielleicht die „letzte Bastion in einer sich selbst entfremdenden zunehmend digitalisierten Welt“. In 17 Tarifrunden seit der Wiedervereinigung sei es immer gelungen, Kompromisse zu finden. „Selbst wenn man wollte, man könnte nicht ohne einander“, sagte Dulger. „Schwächen wir die Tarifautonomie, dann schwächen wir auch die soziale Marktwirtschaft.“