Alle loben bei ihrer Geburtstagsfeier die mutigen Taten der SPD. Über ihre unsichere Zukunft verliert keiner der Festredner ein Wort.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Leipzig - Dem Morgenrot entgegen“, so beginnt eine Hymne aus dem reichhaltigen Liederschatz der Arbeiterbewegung. Der Morgen ist schon weit fortgeschritten, bis die Ehrengäste am Gewandhaus in Leipzig erscheinen. So ist es eher die Mittagssonne, der sie entgegenschreiten, als sie den Augustusplatz überqueren, vorbei am neubarocken Mendebrunnen mit seinen bronzenen Putten und barbusigen Göttinnen, über den die Reporterlegende Egon Erwin Kisch die lästerliche wie unwahre Legende verbreitet hat, eine Bordellbesitzerin habe ihn gestiftet.

 

„Ein Liebestraum“ steht auf einem Transparent zu lesen, das an der Opernfassade hängt. Es wirbt für einen Ballettabend. Die Gäste kommen, einem anderen Traum zu huldigen, dem Traum einer ganzen Klasse, der unerhörten Mehrheit des Landes – einem Traum von Emanzipation. Die Oper, ein Bauwerk im Stile des sozialistischen Klassizismus, mag als Mahnmal dafür dienen, dass dieser Traum auch in die Irre führen kann. Daran wird Bundespräsident Joachim Gauck später erinnern.

Vor 150 Jahren deutete nichts darauf hin, dass einmal Präsidenten und andere Herrschaften des 23. Mai gedenken würden. Der Salonsozialist Ferdinand Lassalle hatte Gesinnungsgenossen in das Leipziger „Pantheon“ geladen, ein „Concert- und Ball-Etablissement“. Es bedurfte keiner Polizeispaliere, um seine Gäste zu eskortieren. Nur ein Dutzend war erschienen. Ihr Treffen wird als Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie gefeiert.

Im ehrwürdigen Gewandhaus geht es an diesem historischen Tag zunächst auch zu wie in einem „Ball-Etablissement“. Über die geschwungene Decke und die Pfeifen der berühmten Schuke-Orgel huschen Lichtkegel in einem Rot, das Nachtbars und vergleichbare Lokalitäten illuminieren könnte. Es geht zu wie bei einem Klassentreffen.

Wie es sich für die Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins geziemt, erscheint ein Gewerkschafter als einer der ersten Gäste: Berthold Huber, Chef der IG Metall. Rudolf Scharping irrlichtert durch die Sitzreihen, einer von elf SPD-Vorsitzenden nach der glorreichen Zeit von Willy Brandt. Im Parkett sitzt das halbe Kabinett Schröder.

Später stößt auch der Altkanzler höchstselbst dazu. Er hält ein bisschen Hof und lässt sich schließlich nieder, um gemeinsam mit dem zweiten Altkanzler für die Fotografen zu posieren: mit Helmut Schmidt, der inzwischen sogar in der eigenen Partei wie ein Philosoph verehrt wird. Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth lässt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier eine geradezu monumentale Umarmung angedeihen. Aber Grün und Rot sind keineswegs unter sich. Angela Merkel kommt so spät, dass die meisten Gäste schon Platz genommen haben und sie nicht mehr jedem einzelnen Genossen die Hand schütteln muss. Ihr Erscheinen ist eine Geste, die von einem bemerkenswerten Wandel der politischen Kultur kündet.

Als die SPD 1963 ihren hundertsten Geburtstag feierte, lehnte es der CDU-Vorstand noch höhnisch ab, einen Gratulanten zu entsenden. Kanzler Adenauer ließ sich schon gar nicht blicken. Auch der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke hatte eine Ausrede parat. Jetzt sind sämtliche Verfassungsorgane vertreten. SPD-Chef Sigmar Gabriel ist darüber so entzückt, dass er vor lauter Stolz die Kanzlerin als „Bundespräsidentin“ willkommen heißt. In das aufkommende Gelächter flachst er, die Sozialdemokraten seien schon immer „ihrer Zeit voraus“ gewesen.



So ist es auch an diesem Jubeltag. Um 10.58 Uhr nimmt das Leipziger Symphonieorchester Aufstellung, um die Nationalhymne anzustimmen – als gelte es, die Erinnerungen an jene Zeiten zu übertönen, als Sozialdemokraten noch als „Vaterlandsverräter“ verunglimpft wurden. Die Schauspielerin Iris Berben und ihr Kollege David Kross verlesen Texte, die wie die Untertitel eines Lehrfilms über die ruhmreichen Momente der SPD-Geschichte klingen. Bilder dazu werden an die Stirnseite des Konzertsaals projiziert. Als die Schlusssequenz über die Leinwand flimmert, heißt es dazu: „Unsere Tradition lebt.“ Zu sehen ist dabei der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, dem zwar ein Platz in der ersten Reihe, aber kein Auftritt auf der Bühne vergönnt ist. Gleiches gilt auch für die Frau, deren Amt er anstrebt. Merkel lässt es sich allerdings nicht nehmen, der konkurrierenden Volkspartei ihre Reverenz zu erweisen. In einem Zeitungsbeitrag würdigt sie die SPD als „streitbare und unbeugsame Stimme der Demokratie in Deutschland“. Schöner hat sich auch Gabriel nicht ausgedrückt.



Der Bundespräsident buchstabiert die historische Mission der SPD als das Bestreben, „Emanzipation durch Bildung“ zu erreichen. Dieser Ansatz sei vor 150 Jahren revolutionär gewesen, modern sei er heute noch. Gauck wird in seinem Grußwort grundsätzlich. Die SPD habe von allen Parteien den „tiefgreifendsten inneren Wandel durchlebt“. Sie sei damit ein Muster für „die sich ständig verbessernde Demokratie“, beispielhaft für andere Parteien.

Das Wort Wutbürger nimmt der Präsident nicht in den Mund, aber er spricht über sie. Die Parteien dürften sich vor ihnen nicht fürchten. Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen seien „eine wichtige Ergänzung, aber kein Ersatz für die repräsentative Demokratie“. Sie vertreten Partikularinteressen, so Gauck. Die Parteien aber müssten das große Ganze im Blick behalten. Und manchmal gelinge es ihnen sogar, den eigenen Anhängern Zumutungen aufzuerlegen, die den Notwendigkeiten der Zeit gehorchten. Altkanzler Schröder darf sich von Gauck geadelt fühlen. Seine Genossen scheinen ihm jedenfalls nicht mehr gram zu sein, wenn der Applaus, der aufbrandet, als er offiziell begrüßt wird, dafür ein verlässlicher Indikator ist.

Über Zumutungen spricht auch der nächste Festredner: Frankreichs Präsident François Hollande. Der Beifall, der ihm entgegenschallt, ist wohlwollender als in seiner Heimat. Als das Drehbuch für die Jubiläumsfeier verfasst worden ist, mag Hollande noch als strahlender Wahlsieger gegolten haben. Inzwischen ist sein Glanz verflogen. Auch bei diesem Gastauftritt klingt der Sozialist eher uninspiriert. Was er zu Hause scheut, scheint er trotz allem zu bewundern. Fortschritt verlange, „dass man in schwierigen Zeiten mutige Entscheidungen trifft“, sagt Hollande und erwähnt an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal Gerhard Schröder. Dessen Handeln verdanke es Deutschland, „gegenüber anderen die Nase vorne zu haben“. Der Präsident nennt das „Realismus“. Auch in Frankreich werde solcher Realismus angemahnt. Doch Hollande erklärt: „Nicht alles ist übertragbar.“ Die Gewerkschaften und die politische Kultur seien in seinem Land zu verschieden. Schließlich gelingt dem Gast noch ein kleines Wunder. Indem er das Bild beschwört von einem Auftritt Hand in Hand mit François Mitterrand, schafft er es, dass die versammelte sozialdemokratische Festgemeinde sogar Helmut Kohl Beifall spendet.

SPD-Chef Gabriel sagt Sätze, die sich anhören, als sollten sie in Marmor gemeißelt werden. Er nennt seine Partei „das Rückgrat der deutschen Demokratie“. Die Sozialdemokratie stehe für die „gute Kontinuität in der deutschen Geschichte“. Aus der Historie gleitet Gabriel in die Tonlage einer Parteitagsrede. Angela Merkel klatscht müde – vielleicht animiert sie die Zweideutigkeit mancher Bemerkungen. „Die SPD lebt stets vom Hoffnungsüberschuss“, sagt Gabriel. Auch Kanzlerkandidat Steinbrück darf ein Bonmots mit nach Hause nehmen. Es stammt von dem Philosophen Ernst Bloch: „Man muss ins Gelingen verliebt sein und nicht ins Scheitern.“