Mit den Müttern gingen auch die Kinder den Weg des Leids, eine Generation an verlorenen Seelen. Oft unwissend, was geschehen war. Viele von ihnen sind aidskrank, das HI-Virus war eine Waffe des Bürgerkrieges, infizierte Soldaten zogen durch die Dörfer. Kinder, die Glück hatten, wurden von Verwandten aufgenommen. Andere wurden ausgesetzt oder in den Familien misshandelt. Nur wenige Ehemänner akzeptierten, dass ihre Frauen Kinder von Fremden nach Hause brachten, sie vergewaltigten die Mädchen, quälten die Jungs.

 

Für Genozidüberlebende in Ruanda gibt es neue Häuser, Prothesen und Hunderte große und kleine Gedenkstätten – verteilt im ganzen Land. Die wichtigste steht auf einem der vielen Hügel in Kigali, ein Museum samt Friedhof für 250 000 Tote, mit modernen Audioguides in Deutsch und bald auf Chinesisch. Doch die vergewaltigten Frauen und ihre Kinder warten bis heute auf staatliche Hilfe, sie bekommen weder Schulgeld noch Therapieplätze, sie müssen selbst schauen, wie sie mit ihren Traumata und anderen Spätfolgen des Missbrauchs zurechtkommen. Für die Regierung sind sie nur ein Problem von vielen.

„Immerhin sechs Prozent des nationalen Budgets geht an die Opfer“, sagt Ildephonse Karengera von der ruandischen Kommission für Erinnerungsarbeit. Der 64-jährige Abteilungsleiter mit Goldbrille und fein geschnittenem Gesicht gibt fast im gleichen Atemzug zu, dass das Geld nicht reiche, um alle zu unterstützen. Er sitzt an einem langen Konferenztisch, ein wuchtiger Bürokomplex, wie sie in den vergangenen Jahren in der Hauptstadt vielerorts gebaut wurden, denn Ruanda, eines der ärmsten Länder der Welt, erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung wie nie zuvor, und ein Ende ist nicht absehbar.

Am 6. April soll die ganze Nation innehalten

Die Behörden haben Einigkeit verordnet, Tutsis und Hutus gibt es nicht mehr, das Miteinander ist der neue Kitt der Gesellschaft. Hetzreden, aber auch legitime Kritik an der Regierung stehen unter Strafe. Meinungsfreiheit und Medienvielfalt sind unerwünscht. „Wir sind alle Ruander, Divisionismus bringt uns gar nichts“, sagt Ildephonse Karengera. Er ist seit Wochen mit der Vorbereitung von Gedenkfeierlichkeiten beschäftigt. Eine Flamme der Erinnerung tourt durchs Land. Im April, 20 Jahre nach Beginn des großen Mordens, soll im Stadion gemeinsam der Toten gedacht werden – mit Gästen aus aller Welt.

Zwischen Maisfeldern und Bananenstauden, in einem Haus ohne Strom, aber mit Moskitonetzen, einer mageren Kuh und etlichen Ziegen, alle angebunden, so wie es Vorschrift ist in Ruanda. „Sie hetzten im Radio gegen uns Tutsis, es war alles geplant, ganz sorgfältig, ein kalkuliertes

Rukara ist ein Kind des Völkermords. Der heute 19-Jährige kannte seine grausame Geschichte lange nicht. Foto: Goldstein
Töten nach Listen“, erinnert sich Beatha. Mit ihrer jüngeren Schwester floh sie vor den Schlächtern quer durchs Land bis in den Kongo, wo sie glaubten, in einem Auffanglager sicher zu sein. Was für ein Irrtum, waren sie doch wieder unter Feinden. Nach dem Ende des Mordens waren auch die Hutu-Milizen auf der Flucht, vertrieben und entmachtet strandeten auch sie in den grenznahen Lagern.

Beatha war froh, als die Muttermilch nach kurzer Zeit versiegte. Je älter Rukara wurde, umso härter traf ihn die Verachtung seiner Mutter. Sie ließ keinen Körperkontakt mehr zu – außer Schläge, wenn er mal wieder etwas falsch gemacht hatte, mit der flachen Hand, mit Stöcken. „Ich konnte ihn kaum in meiner Nähe ertragen“, sagt Beatha und schaute zu, wie die Nachbarkinder ihren unerwünschten Sohn hänselten, wie er in der Schule gemobbt wurde.

„Immer im April kamen die Albträume zurück“

Am schlimmsten waren die Jahrestage des Völkermords. „Immer im April kamen die Albträume zurück, die Schreie in meinem Kopf, die schlaflosen Nächte“, erzählt Beatha. Sie schlug Rukara in jenen Wochen umso heftiger. Sie wollte die Täter strafen und strafte einen Unschuldigen. „Ich nannte ihn Verbrecher der Interahamwe“, erzählt die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, sie beschimpfte ihren ältesten Sohn als Mitglied der paramilitärischen Mördermiliz.

Sie konnte nicht anders, damals. Heute weiß sie es besser.

Ganz sanft berühren sich die Fingerspitzen von Rukara und seiner Mutter, es ist eine freundliche Begrüßung. Ein Lächeln huscht über ihr ernstes Gesicht. Es ist Samstag, der 19-Jährige kommt vom Internat zurück, zweieinhalb Stunden auf dem Motorradtaxi, die fünf Euro Transportkosten kann er sich nicht oft leisten. Rukara, schwarze Wildlederslipper, Jeans und ein Grinsen von einem Ohr zum anderen, erzählt von Klausuren, vom Volleyball, das ihm Spaß macht. Rukara redet, und seine Mutter hört aufmerksam zu. Das kann sie, seit ihr vor einigen Jahren selbst geholfen wurde – von der ruandischen Frauenrechtsorganisation Sevota. Da hat sie erfahren, dass es noch viele gibt wie sie. Frauen voller Scham, von Ängsten gepeinigt, die nie reden konnten über das Unaussprechliche und an ihrem Geheimnis fast verzweifelten.

Viele bekommen Hilfe, die vergewaltigten Frauen aber nicht

Mit den Müttern gingen auch die Kinder den Weg des Leids, eine Generation an verlorenen Seelen. Oft unwissend, was geschehen war. Viele von ihnen sind aidskrank, das HI-Virus war eine Waffe des Bürgerkrieges, infizierte Soldaten zogen durch die Dörfer. Kinder, die Glück hatten, wurden von Verwandten aufgenommen. Andere wurden ausgesetzt oder in den Familien misshandelt. Nur wenige Ehemänner akzeptierten, dass ihre Frauen Kinder von Fremden nach Hause brachten, sie vergewaltigten die Mädchen, quälten die Jungs.

Für Genozidüberlebende in Ruanda gibt es neue Häuser, Prothesen und Hunderte große und kleine Gedenkstätten – verteilt im ganzen Land. Die wichtigste steht auf einem der vielen Hügel in Kigali, ein Museum samt Friedhof für 250 000 Tote, mit modernen Audioguides in Deutsch und bald auf Chinesisch. Doch die vergewaltigten Frauen und ihre Kinder warten bis heute auf staatliche Hilfe, sie bekommen weder Schulgeld noch Therapieplätze, sie müssen selbst schauen, wie sie mit ihren Traumata und anderen Spätfolgen des Missbrauchs zurechtkommen. Für die Regierung sind sie nur ein Problem von vielen.

„Immerhin sechs Prozent des nationalen Budgets geht an die Opfer“, sagt Ildephonse Karengera von der ruandischen Kommission für Erinnerungsarbeit. Der 64-jährige Abteilungsleiter mit Goldbrille und fein geschnittenem Gesicht gibt fast im gleichen Atemzug zu, dass das Geld nicht reiche, um alle zu unterstützen. Er sitzt an einem langen Konferenztisch, ein wuchtiger Bürokomplex, wie sie in den vergangenen Jahren in der Hauptstadt vielerorts gebaut wurden, denn Ruanda, eines der ärmsten Länder der Welt, erlebt einen wirtschaftlichen Aufschwung wie nie zuvor, und ein Ende ist nicht absehbar.

Am 6. April soll die ganze Nation innehalten

Die Behörden haben Einigkeit verordnet, Tutsis und Hutus gibt es nicht mehr, das Miteinander ist der neue Kitt der Gesellschaft. Hetzreden, aber auch legitime Kritik an der Regierung stehen unter Strafe. Meinungsfreiheit und Medienvielfalt sind unerwünscht. „Wir sind alle Ruander, Divisionismus bringt uns gar nichts“, sagt Ildephonse Karengera. Er ist seit Wochen mit der Vorbereitung von Gedenkfeierlichkeiten beschäftigt. Eine Flamme der Erinnerung tourt durchs Land. Im April, 20 Jahre nach Beginn des großen Mordens, soll im Stadion gemeinsam der Toten gedacht werden – mit Gästen aus aller Welt.

Wie Gewitterwolken rücken die Tage des Trauerns näher – unaufhaltsam, alles verdunkelnd, für Beatha kaum zu ertragen. „Sie haben uns all die Jahre vergessen und unsere Kinder mit“, klagt die Alleinerziehende. Das Haus, das sie in ihrer Nachbarschaft für sie bauen wollten, ist noch immer nicht fertig. „Was soll ich damit, wenn ich dringender Bohnen und Mais brauche“, ärgert sich die 44-Jährige, die mit ihren Kindern bei ihrer betagten Mutter Unterschlupf gefunden hat. Geholfen habe ihr erst Sevota, erinnert sie sich, „da hat sich mein Herz wieder geöffnet“.

Die kleine private Hilfsorganisation, gegründet von einer engagierten Sozialarbeiterin, hat als Zusammenschluss von Nachbarinnen begonnen und ist allmählich gewachsen. „Wir haben gemeinsam geweint und getanzt, unsere Kinder haben sich kennengelernt“, erzählt Beatha. Es habe sich etwas verändert in ihr durch die monatlichen Begegnungen. Sie begann zu ahnen, dass ihre Wut den falschen getroffen hatte. Sie stellte sich hinter ihren Sohn, fühlte sich selbst angegriffen, wenn Rukara in seiner Klasse geschnitten wurde. „Judas“ nannten sie ihn, den Verräter, dem keiner trauen kann. Sie ging in seine Schule und stellte die Mitschüler zu Rede, sprach lange mit dem Lehrer.

Schließlich beten sie gemeinsam

Ganz leise redet Rukara über die Zeit, als er in seiner eigenen Familie unerwünscht war und sich nach nichts mehr sehnte, als seinen Vater zu finden. „Ich habe ihn schrecklich vermisst“, sagt der 19-Jährige mit Oberarmen wie ein Boxer. Wenn der Zorn ihn aufwühlte, ging er an seinen Barren, der immer noch vor dem Lehmhaus steht. Ein paar Holzstangen, fest verankert in der Erde. Zwischen den Holmen schwingt Rukara, als ob er Flügel hätte. So leicht, so schwerelos – wie sein Leben nie war. „Ich wollte immer die Wahrheit hören, das ist wichtig, um alles zu verstehen.“

Rukara, der junge Mann mit der pechschwarzen Haut und den starken Armen, schaut seiner Mutter in die Augen. „Es ist nicht unsere Schuld“, sagt er und dass es nicht gut sei, ständig über das Vergangene zu reden. Seine Mutter faltet die Hände, senkt den Kopf zum gemeinsamen Gebet, wie sie es oft tun. „Mein Gott, dir sei gedankt, dass du uns gerettet hast, als so viele starben“, sagt Beatha, und die Worte kommen von Herzen. Sie hat ihren Frieden gemacht mit dem Kind, das auch ihres ist.