Der nächste Bundestag droht aus den Nähten zu platzen. Deshalb soll das Wahlrecht noch schnell reformiert werden. Dass das klappt, ist aber eher unwahrscheinlich.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Die Fraktionen im Bundestag wollen in dieser Legislaturperiode einen weiteren Versuch zur Reform des Wahlrechts unternehmen. Der Grund ist, dass der nächste Bundestag, der im Herbst 2017 gewählt wird, aus allen Nähten platzen könnte. Schätzungen gehen davon aus, dass statt der aktuell 630 Bundestagsabgeordneten, im nächsten Parlament bis zu 750 Parlamentarier sitzen könnten. Diese Kalkulationen fußen einerseits auf den Regeln des gültigen Wahlrechts und andererseits auf den Meinungsumfragen, die sowohl der FDP als auch der AfD einen Einzug in den Bundestag prognostizieren.

 

Die Aussichten auf ein so großes Parlament bereiten Vertretern aller Fraktionen Bauchschmerzen. Da spielt nicht nur die Angst vor Platzproblemen im Plenarsaal, Raumnot in den Bürogebäuden des Bundestags und die Sorge um die Effizienz der parlamentarischen Arbeit eine Rolle. Gefürchtet wird auch der Volkszorn wegen der Kosten. Der Bund der Steuerzahler hat errechnet, dass dieMehrkosten bei einer Ausdehnung von 630 auf 750 Abgeordnete sich auf 70 Millionen Euro jährlich belaufen würden. Laut dem Verband kostet der Bundestag die Steuerzahler derzeit 408 Millionen Euro.

Zeit für eine Wahlrechtsreform vor der Wahl ist knapp

Ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl ist es eigentlich zu spät für eine Wahlrechtsreform, zumal in dieser Wahlperiode bereits ein Versuch gescheitert ist, die Stellschrauben im Gesetz so zu justieren, dass die künftigen Parlamente dem Normalumfang von 598 Mandaten näher kommen. Dennoch hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) seinen Vorschlag jetzt erneut auf die Agenda gesetzt. Er macht sich dafür stark, die maximale Zahl der Abgeordneten bei 630 zu deckeln. Vereinbart wurde inzwischen, dass Lammert die Fraktionsvorsitzenden zu Gesprächen einlädt. Über konkrete Termine ist im Bundestag allerdings nichts zu erfahren.

Das Thema ist kompliziert. Denn das kleine Einmaleins reicht nicht aus, um auszurechnen, wieviele Sitze einer Partei im Bundestag angesichts ihres Prozentergebnisses zustehen. Das liegt daran, dass jeder Stimmberechtigte bei jeder Bundestagswahl eine Erst- und eine Zweitstimme hat, und in Deutschland eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht praktiziert wird. In jedem der 299 Wahlkreise wird ein Direktmandat vergeben, das der Wahlkreiskandidat mit der größten Zahl der Erststimmen im Wahlkreis erhält. 299 weitere Mandate werden anhand des Zweitstimmenergebnisses der Parteien und anhand der Landeslisten vergeben. Nun kann es geschehen, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate holt, als ihr gemäß des Zweiststimmenergebnisses zustünden – das sind die sogenannten Überhangmandate. Dadurch werden die Gewichte der Parteien, die ihnen laut Zweitstimmenergebnis gebühren, verzerrt, was das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft hat. Um dieses Problem zu beheben, wurde das Wahlrecht 2012 korrigiert und die sogenannten Ausgleichsmandate geschaffen. Bei der Wahl 2013 errang die CDU vier Überhangmandate; um den Parteienproporz des Wahlergebnisses wiederherzustellen, wurden 29 Ausgleichsmandate geschaffen. So wuchs der aktuelle Bundestag auf 630 Abgeordnete an.

Reform berührt Eigeninteressen aller Parteien massiv

Wie genau die Stellschrauben im Wahlrecht verändert werden, berührt massiv die Eigeninteressen der Parteien. Deshalb haben SPD, Linke, Grüne und Union bisher völlig unterschiedliche Reformansätze vertreten. Lammerts Vorschlag einer Deckelung auf 630 Parlamentarier, nutzt nach Auffassung der übrigen Fraktionen nur der Union. Deren Fraktionspitze unterstützt dem Vernehmen nach Lammerts Konzept. Alle anderen signalisieren Reformbereitschaft, beharren aber auch auf ihren Grundpositionen.

Die Grünen kritisierten SPD und Union, weil sie das Thema so lange haben schleifen lassen. „ Wir haben immer Gesprächsbereitschaft signalisiert“, betont Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann. „ Fest steht für uns, dass sich das Zweitstimmenergebnis in der Zusammensetzung des Bundestages eins zu eins widerspiegeln muss.“ Die SPD betont ebenfalls, dass ernsthaft versucht wird, der Problematik Herr zu werden. „Je schneller das klappt, desto besser“, so eine Faktionssprecherin. „Die Sachlage ist jedoch schwierig und verlangt eine Grundgesetzänderung. Deshalb können wir nichts übers Knie brechen.“ Für die Linke betont Dietmar Bartsch entwaffnend ehrlich: „Ich würde mir wünschen, dass die Diskussion weitergeführt wird, allerdings nicht mit Blick auf eine Lösung zur Wahl 2017, sondern für die übernächste Wahlperiode.“

Auf dem Schwarzen Peter will niemand sitzen bleiben

Realistisch ist es nicht gerade, dass die Fraktionen ihre Differenzen überwinden und bis zur Sommerpause 2017 noch eine einvernehmliche Grundgesetzänderung erreichen. Schon weil die Nominierung der Kandidaten bereits läuft und eine Reduzierung der Wahlkreise damit ausgeschlossen ist, ist es wahrscheinlicher, dass der 19. deutsche Bundestag deutlich größer wird als sein Vorgänger. Dass jetzt nur noch Reformgetöse inszeniert wird, weil bei dem heiklen Thema keiner auf dem Schwarzen Peter sitzen bleiben und die Ausdehnung des Parlaments auf seine Kappe nehmen will, ist ein echtes Risiko. Damit wollen die baden-württembergischen CDU-Abgeordneten Karin Maag, Michael Hennrich und Thomas Bareiss sich nicht abfinden wollen. Sie wollen die Wahlrechtsreform unbedingt ins Ziel bringen und fordern deshalb auch Kompromissbereitschaft von ihrer eigenen Fraktion. „Mit dem Vorstoß von Norbert Lammert, liegt zwar ein guter Vorschlag auf den Tisch“, betont Karin Maag. „Aber die Union muss kompromissbereit sein, wenn vor allem die kleineren Parteien sich benachteiligt fühlen.“ Wenn die übrigen Fraktionen bis Februar einen eigenen Entwurf vorlegen, „muss die Union ernsthaft bereits sein, auch darüber zu verhandeln“, setzt sie hinzu. Damit bringt sie auch die eigene Fraktionsspitze in Zugzwang, die den Lammert-Vorschlag propagiert. Maag und ihre Mitstreiter ist es ernst: „Die Einigung noch vor der Wahl ist im Interesse aller demokratischen Parteien, weil ein Bundestag mit 750 Abgeordneten die Qualität der parlamentarischen Arbeit nicht besser, sondern schlechter macht.“