Der Abgeordnete Andreas Schockenhoff bekämpft seine Alkoholsucht in aller Offenheit. Ein solches Outing hat es zuvor noch nie gegeben.

Ravensburg - Es ist ein politischer Allerweltstermin. Der Ravensburger CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff besucht am 2. Juli 2011 das Kreismusikfest in der Gemeinde Baindt. Er spricht vor rund 3000 Gästen im Festzelt ein Grußwort, trinkt und redet mit den Leuten. Dann macht er sich auf den Heimweg. Beim Ausparken touchiert er ein anderes Auto, notiert sich das Kennzeichen, um, wie er sagt, anderntags zur Polizei zu gehen und fährt die rund zehn Kilometer nach Hause. Dort klingelt noch nachts die Polizei und bittet zur Blutprobe. Sie ergibt nach Angaben der Staatsanwaltschaft "deutlich über zwei Promille". Er habe zu Hause weiter getrunken, sagt der stellvertretende Chef der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Wie viel Alkohol er zum Zeitpunkt des Unfalls im Blut hatte, müssen Experten ermitteln.

 

Einem Antrag, seine Immunität als Abgeordneter aufzuheben, widerspricht Schockenhoff nicht, und so nimmt ein staatsanwaltschaftliches Verfahren wegen des Verdachts auf Unfallflucht und Trunkenheit im Verkehr seinen Lauf. Es drohen Bußgeld und Führerscheinentzug - ein alltäglicher Fall. Doch als die Geschichte publik wird und die Heimatzeitung nachfragt, wird daraus ein Ereignis. Der 54-Jährige überrascht mit einer "persönlichen Erklärung: "Ich bin alkoholkrank." Er sei zur Erkenntnis gelangt, dass er ärztliche Hilfe benötige und werde sich einer stationären Therapie unterziehen. "Ich bedauere den gesamten Vorfall ungemein und entschuldige mich in aller Form für mein Verhalten" lässt er die Öffentlichkeit noch wissen.

Das menschliche Problem bleibt im Dunkeln

Während Schockenhoff fortan für niemanden mehr zu sprechen ist, rauscht der Blätterwald der Republik gewaltig. Ein solches Outing eines namhaften Politikers hat es bisher noch nicht gegeben. Dass der frühere SPD-Bundeskanzler Willy Brandt seine Schwermut mit Alkohol kurierte, wussten Beobachter, doch geschrieben wurde darüber allenfalls sehr dezent. Von ihm selbst hörte man dazu kein Wort. Als 1983 der CSU-Generalsekretär Otto Wiesheu betrunken einen tödlichen Auffahrunfall auf der Autobahn verursachte, war das Thema eher, ob der Unfallgegner nicht fahrlässig langsam gefahren sei. Wiesheus Alkoholkonsum war schnell abgehakt.

Von Edmund Stoiber immerhin ist überliefert, dass er im Bierzelt zum Schein oft Kamillentee oder Apfelsaft aus dem Maßkrug trank. Aber als vor wenigen Wochen der Wahlkampfmanager der Berliner Spitzen-Grünen Renate Künast betrunken an einer Ampel einschlief und nach Polizisten trat, die ihn weckten, kostete ihn das zwar seinen Job und Renate Künast forderte flugs null Promille im Straßenverkehr. Aber das menschliche Problem, das hinter solchen Geschichten steckt, bleibt im Dunkeln.

Zwölf Minuten hat die Rückkehr in die Normalität gedauert

Doch genau darum geht es dem gebürtigen Ludwigsburger Schockenhoff. Vor einer Woche hat er sich nach seiner Auszeit bei der Haushaltsdebatte in Berlin mit einer außen- und europapolitischen Rede zurückgemeldet. Gut zwölf Minuten hat diese Rückkehr in die Normalität gedauert, mit freundlichem Applaus begleitet von seinen Fraktionskollegen. Nun sitzt der Außen- und Verteidigungspolitiker in Jeans und einem kurzärmeligen blauen Hemd im Cafe Central am Ravensburger Marienplatz und bestellt sich eine Latte macciato. Auffällig schlank ist der Mann mit der dunklen Igelfrisur. Freundlich, zugewandt und ruhig erzählt er, was er erlebt hat seit jenem 2. Juli - obwohl er eigentlich gar nicht mehr öffentlich darüber sprechen will. Er will nach vorne schauen und nicht den Eindruck erwecken, er gehe mit seinem Problem hausieren. Eigentlich will er, wie bisher, Privates privat halten.

Gleichwohl: "Dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, war eine sehr rationale Entscheidung." Der Vater von drei erwachsenen Kindern ergänzt. "Ich wollte einen Schnitt machen. Ich wusste, dass ich einen problematischen Alkoholkonsum habe, und hatte schon länger vorgehabt, daran zu arbeiten." Bereits Mitte der 90er Jahre war er einmal mit einer Trunkenheitsfahrt aufgefallen. "Ich war aber der Auffassung, ich hätte das alles unter Kontrolle und kann selber bestimmen, wann es mir reinpasst."

Die enorme Resonanz hat niemand voraus gesehen

Der 2.Juli hat diese Selbsteinschätzung jäh widerlegt. Daraus zog Schockenhoff mit seinem Outing eine doppelte Konsequenz: "Als Abgeordneter steht man in der Öffentlichkeit und unter ständiger Beobachtung. Das gehört dazu, und das macht mir auch nichts aus. Aber mir war wichtig zu zeigen, dass dahinter ein Mensch steht, der private Probleme, Alltagssorgen und Krankheiten hat wie jeder andere auch. Ich bin nicht nur eine Funktion. Wenn man das offen ausspricht, ist die Situation klar. Dann muss man nicht mehr tuscheln oder spekulieren." Und so paradox es auch klingt, aber das öffentliche Geständnis sollte ihn zugleich auch persönlich schützen: "Ich habe mir eingestanden, dass ich mir nur vorgemacht habe, alles im Griff zu haben. Und ich wollte mir die Rückkehr in die alten Verhaltensmuster verbauen."

Seine Kinder haben seinen Schritt unterstützt. "Sie haben darin meinen absoluten Willen gesehen, etwas zu ändern." Was freilich niemand voraussah, war die enorme Resonanz. "Ich habe viel Zuspruch und Ermutigung erfahren", sagt Schockenhoff. In Berlin hat ihm nicht nur Fraktionschef Volker Kauder den Rücken gestärkt, Kollegen aus allen Fraktionen hätten seine Offenheit als mutig gelobt. Sogar bis in die Morgenlage der Bundeskanzlerin mit ihren engsten Mitarbeitern ist sein Problem vorgedrungen. Das weiß Schockenhoff von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, der ihm im Namen der Kanzlerin ausrichtete, sie finde seinen Schritt sehr gut.

Besonderes Risiko Alkoholiker zu werden

Als die EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann im Februar 2010 nach einer Alkoholfahrt von ihrem Amt zurücktrat, sagte sie, als Christ könne man "nicht tiefer fallen als in Gottes Hand". Auf sich bezogen würde dem gläubigen Katholiken Schockenhoff - sein Bruder ist der renommierte Moraltheologe Eberhard Schockenhoff - ein solcher Satz nicht über die Lippen kommen, "das wäre mir zu ostentativ. Ich bin kein Saulus, der zum Paulus wurde, ich will kein geläutertes Vorbild sein."

Er wehrt sich auch gegen die öffentlich immer wieder kolportierte Meinung, wonach Politiker ein besonders großes Risiko hätten, Alkoholiker zu werden. Markige Sprüche wie die von Joschka Fischer, "der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholiker-Versammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt" oder Youtube Videos, die lallende Abgeordnete zeigen, scheinen das zwar nahezulegen. Verlässliche Zahlen, die Politiker als Hochrisikogruppe ausweisen, gibt es aber nicht. Schockenhoff hält sein Problem denn auch nicht für eine Berufskrankheit. "Alkoholsucht ist nicht die Staublunge der Politiker", warnt er vor vorschnellen Verallgemeinerungen. In Oberschwaben müsse man nicht mal in der Fasnet trinken. Ins bayerische übersetzt heißt das: Selbst auf dem Oktoberfest darf man alkoholfrei feiern, ohne stigmatisiert zu werden.

Die Therapie hat ihm die Augen geöffnet

Schockenhoff, der seit 1990 Bundestagsabgeordneter ist, verweist statt dessen auf seine Biografie. Kurz nach der Geburt des dritten Kindes ist 1995 seine Frau an Krebs erkrankt und nach mehreren Operationen 2002 gestorben. Als alleinerziehender Vater musste er - oft von Berlin aus - Familie und Haushalt managen. Danach hat er schnell wieder geheiratet, doch die Ehe scheiterte. Er habe lange funktioniert, weil er funktionieren musste und weil er funktionieren wollte, weil er seine Aufgabe liebe. Dabei, so sieht es der ehemalige Lehrer heute, sei er "nicht an einen Abgrund, wohl aber auf eine schiefe Ebene gelangt."

Der 2. Juli und die Therapie danach haben ihm die Augen geöffnet, "dass ich achtsam mit mir und meinen Gefühlen sein muss. Das habe ich in der Vergangenheit zu wenig getan." Er weiß natürlich, dass das Thema Alkohol nicht weg ist. "Das ist nicht wie ein Gips, den man nach sechs Wochen wegschneidet. Aber ich fühle mich befreit. Ich habe einen neuen Blick auf mich gewonnen. Den will ich mir bewahren."