Am allerersten Frühlingstag des Jahres in Rom feiert Papst Benedikt XVI. seine letzte Generalaudienz vor begeisterten Menschenmassen: sichtlich gelöst und ganz ohne Schwarzseherei für die Zukunft.

Rom - Sie renovieren die Kolonnaden in Rom. Jeder Dreck soll aus den Ritzen, von allen Heiligen sollen die Verkrustungen weg. Sauber sollen Berninis Säulenhallen sein, dieses gewaltige Oval, diese weit geöffneten Arme, von denen sich Pilger und Touristen vor dem Petersdom aufgenommen sehen. Säubern wollte Benedikt XVI. seine Kirche. Und tatsächlich: die Kolonnaden strahlen in fast reinem, blendendem Weiß. Da ist kein weicher Barock mehr. Hart ist der Kontrast zum stahlblauen römischen Himmel. Jetzt geht der Papst. Und jeder in der Menschenmasse sieht es: an den Säulen des Vatikans ist die Arbeit erst zur Hälfte getan.

 

Es ist Mittwoch, der erste wirkliche Frühlingstag des Jahres in Rom. Es ist Zeit für Benedikts letzten öffentlichen Auftritt. Um diese Jahreszeit kommen normalerweise etwa 10 000 Menschen zur wöchentlichen Generalaudienz des Papstes. Seinen Abschied diesmal wollen 150 000 sehen. Voll ist der Petersplatz, genauso wie zuletzt am Abend des 19. April 2005, als der weiße Rauch aufstieg aus dem Giebel der Sixtinischen Kapelle und Joseph Ratzinger auf dem Balkon des Doms die Arme hochriss: „Liebe Brüder und Schwestern, nach dem großen Papst Johannes Paul II. haben die Herren Kardinäle mich gewählt, einen einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn.“

Im Publikum heute: lauter Benedikt-Fans. „Benedetto, wir lieben dich! Einen wie dich finden wir nie mehr!“, singen italienische Schlachtenbummler mit Inbrunst und Fahnenschwenken. Andere Gruppen hören sich den Rhythmus ab, und dann geht’s weiter im Wechselgesang. Das Bayerische Pilgerbüro hat auf die Schnelle eine Papst-Abschiedsreise organisiert, ein paar Tausend sind eigens für diese Generalaudienz über die Alpen gekommen. „Das musste einfach sein“, sagt ein junger Goldschmied aus Erding: „Dieser Papst hat mich immer dermaßen bewegt in meinem Leben.“ Moralische Eckpfeiler habe Benedikt XVI. gesetzt, sagt der 35-Jährige: „Gut, ich weiß, immer halte ich mich nicht dran. Aber wenn’s die nicht gäbe, ginge es viel gröber zu auf der Welt.“

Eine Wolke von Luftballons in den Vatikanfarben

Eine Thüringerin, „als Atheistin aufgewachsen“, hat sich als Erwachsene eigens wegen Benedikt taufen lassen. Jetzt hat sie ihren neuen Namen – Eva Benedicta – auf ihr Fan-T-Shirt gedruckt, trägt den Papst als Goldmedaillon um den Hals und hält eine Wolke von Luftballons in den Vatikanfarben über sich: Weiß und Gelb.

„Ich bin meinem Mann so dankbar“, sagt eine Frau aus dem Ruhrgebiet: „Er hat mich zu meinem besten Freund fahren lassen.“ Bester Freund? „Ich war in einer furchtbaren Lebenskrise, dann habe ich Benedikt bei einer Generalaudienz in Rom erlebt; ich habe bei seinen Worten, bei seinem Glauben Mut gefasst, in mir ist so viel passiert.“

Für eine Münchnerin geht nichts über Benedikt: „Er ist mein Papst. Er hat so eine feine, liebe, schöne Ausstrahlung. Er hat so gelitten unter den Missbrauchsskandalen, er hat geweint mit den Opfern. Es können jetzt noch zehn nach ihm kommen, diesen Benedikt wird keiner übertrumpfen.“ Der Papst bekommt sogar was zurück: „300 Gramm Champagnertrüffel haben wir ihm  geschickt!“, sagt eine Düsseldorferin lachend, die in ihrem Kreis zu Hause nicht nur regelmäßig für den Papst betet. „Wir wissen, dass er die mag, die weltbesten, die prämierten von Heinemann. Jedes Jahr schicken wir ihm zwei Packungen. Und jetzt zum Abschied noch eine.“

Auf dem Dach der Kolonnaden liegen die Scharfschützen

Aus einem Stuhlgeviert des Platzes schallt massives Rosenkranzgebet, in einem anderen skandieren sie unentwegt „Be-ne-detto, Be-ne-detto“. Sie recken rote Herzen in die Luft und bayerische, polnische, brasilianische, spanische, US-amerikanische Fahnen. Scharfschützen sollen oben auf dem Dach der Kolonnaden liegen und auf den Gebäuden  ringsum, aus Sicherheitsgründen. So schreiben es italienische Zeitungen. Zu sehen sind nur die mächtigen Stahlträgerbühnen, die Scheinwerferbatterien und die Zeltdächer, mit denen Fernsehanstalten aus aller Welt praktisch jede Dachterrasse in Sichtweite des Petersplatzes okkupiert haben. Und was die vielen Kameras einfangen, sind ausnahmslos fröhliche, friedliche Szenen von diesem Tag.

Die Sonne schafft schon deutliche Rötungen auf winterbleichen Gesichtern, da kommt er. Zum Abschied sogar in einem neuen Papamobil. Offen, aber mit Panoramaglasdach. Benedikt XVI. fährt zum letzten Mal durch die jubelnde Menge. Fast 86 Jahre ist er jetzt alt, aber einen schwächeren Eindruck macht er nicht als bisher. Und bleich ist er auch nicht. Nur eines: wenn er keine liturgischen Gewänder mit vielen Falten und Spitzen und Rüschen trägt, sondern einen so engen, weißen Mantel wie heute, sieht jeder, wie krumm sein Rücken geworden ist. So, als habe die Last des Amtes Benedikts Schultern auch körperlich niedergedrückt. Und wenn er, auf dem weißen Wagen stehend, mal nach links segnet und mal nach rechts, dann sehen seine Bewegungen eher ruckartig, mechanisch aus.

Die Kamera zoomt nah heran an die Kardinäle

Eigentlich sollte es ja auch an diesem Mittwoch eine ganz normale Generalaudienz werden – so bescheiden, posaunte der Vatikan in die Welt, habe Benedikt XVI. sich das vorgestellt –, aber davon kann natürlich keine Rede sein. Gewiss die weiße Bühne, die sich vor der monumentalen Fassade des Petersdoms ausmacht wie das Dach einer Tankstelle, sie bleibt kahl wie üblich, ohne jeden Blumenschmuck. Aber links sitzt in großer Aufmachung das diplomatische Korps, und rechts leuchten zahlreich die roten und die violetten Käppis hoher kirchlicher Würdenträger. Zwanzig, dreißig Kardinäle natürlich in den ersten Reihen – und auffallend häufig fährt die Kamera des Vatikanischen Fernsehens ganz nahe an ihnen vorbei: Welches Gesicht soll man sich einprägen? Wer von diesen älteren Herren wird in zwei oder drei Wochen auf der Loggia des Petersdoms die Arme hochreißen?

Benedikt XVI., der Scheidende, kümmert sich darum nicht. In sich gesammelt wie eh und je, mit heiserer, aber fester Stimme liest er seine letzte „Katechese“ vom Blatt. Und war bei seinen ersten Messen als Papst noch aufgefallen, wie trotz absolut ruhiger Körperhaltung seine Augen überall herumeilten, um alles, noch die kleinsten Vorgänge ringsherum wahrzunehmen, so ist mittlerweile auch diese letzte Unruhe abgeklungen.

Und noch einen Unterschied gibt es. Die letzten Äußerungen des Kardinals Joseph Ratzinger, die kurz vor dem Konklave 2005 – nach allgemeiner Interpretation – schon als eine Art programmatischer Regierungserklärung fürs Papstamt gedacht waren, die sind wegen ihrer Düsternis in Erinnerung geblieben. Da beklagte Ratzinger den „Schmutz in der Kirche“, auch den unter Klerikern, da geißelte er die „Diktatur des Relativismus“ und – auch in der Kirche – die Wankelmütigkeit des Denkens, „diese wechselnden Winde der Lehre, die das Schifflein des Denkens vieler Christen von einem Extrem zum anderen umhergeworfen haben“.

Voller Freude und Dankbarkeit

Nach acht Jahren Pontifikat ist von dieser Schwärze nichts mehr zu sehen. Ratzinger verabschiedet sich als geradezu heiterer, auf jeden Fall gelöster Papst. „Mein Herz ist voll von Freude und Dankbarkeit“, sagt Benedikt XVI.: „Die Kirche lebt, das zeigt ihr mir alle, die ihr heute so zahlreich gekommen seid. Das zeigen mir die Briefe, in der mir Brüder und Schwestern aus aller Welt, wie echte Familienmitglieder, ihre Nähe bekunden und die mir zu Herzen gehen.“ Von Gott „wirklich geleitet“, hat sich Benedikt im Papstamt gefühlt: „Jeden Tag habe ich seine Nähe gespürt. Nie war ich allein.“ Und wenn’s für das „Schiff der Kirche heftigen Seegang und Gegenwind“ gab, „dann habe ich immer gewusst, es ist nicht mein, nicht unser Schiff; es ist sein Schiff, der Herr lässt es nicht untergehen“. Nichts, sagt Benedikt, „kann diese Gewissheit verdunkeln. Das reinigende und erneuernde Wort des Evangeliums ist das Leben der Kirche. Das ist mein Vertrauen und meine Freude.“

Mehrfach unterbricht mächtiger Applaus den scheidenden Papst, und als er auf seinen Rücktritt zu sprechen kommt, da zücken so manche auf dem großen Platz ihr Taschentuch. „Das Wohl der Kirche und die Liebe zu ihr“, liest Benedikt von seinem Manuskript ab, „verlangt auch schwierige und schmerzhafte Entscheidungen.“

Heftige Kritik aus Krakau

Und dann kommt, in unverändertem Tonfall, auf einmal schärfster Tadel. Kardinal Stanislaw Dziwisz, der als Sekretär Johannes Pauls II. dessen ganze Leidensjahre mitdurchlebt hat, hatte Benedikt für seinen Rücktritt von Krakau aus heftig gerüffelt. „Man steigt nicht herab vom Kreuz!“, hat Dziwisz gerufen, und Benedikt XVI. gibt bei seinem letzten öffentlichen Auftritt, vor aller Welt also, zurück: „Ich steige nicht herab vom Kreuz. Ich bleibe in neuer Weise, im Dienst des Gebets, beim gekreuzigten Herrn.“ Zur Rettung der eigenen Ehre musste das offenbar gesagt werden, und dem Applaus nach ist es angekommen.

Der neue Titel steht noch nicht fest

Der Rest ist Aufbruch. Schon am Abend vor der letzten Generalaudienz waren die Fensterläden im päpstlichen „Appartamento“ halb geschlossen. „Der Papst packt seine Sachen“, hatte Pressesprecher Federico Lombardi gesagt. Entschieden sind auch alle Fragen, auf die in den vergangenen Tagen selbst ausgefuchste Kirchenjuristen – der Einzigartigkeit dieses päpstlichen Rücktritts wegen – keine Antwort wussten, die aber römische Journalisten offenbar Tag und Nacht umtrieben: Was wird Benedikts neuer Titel sein?

Emeritierter Papst, wahlweise Emeritierter Römischer Pontifex. Trägt er Papstweiß oder Klerikerschwarz? Einen weißen Talar, nur ohne Schulterumhang. Und die roten Schuhe? „Er hat auch braune“, lacht Pater Lombardi: „Letztes Jahr haben sie ihm in Mexiko sehr bequeme geschenkt, mit denen ist er glücklich, die wird er weiterhin anziehen.“

Heute nun findet das letzte Kapitel dieses Pontifikats statt. Benedikt und/oder der Vatikan haben ihrer Inszenierung sehr bewusst – und für die Liveübertragung im Fernsehen – ein berühmtes Drehbuch zugrundegelegt: „Nachdem er ein letztes Mal zu seinen Kardinälen gesprochen hatte, führte er sie hinaus auf den Berg. Dort wurde er vor ihren Augen in einem Helikopter zum Himmel emporgehoben, und in einer Wolke entschwand er ihren Blicken.“ Der Text ist fast 2000 Jahre alt; Autor ist ein gewisser Lukas, nach ihm ist auch ein Evangelium benannt. Wir haben aus den Aposteln lediglich die Kardinäle gemacht und das Fluggerät ergänzt.