Bei den Stuttgarter Kriminächten hat Christine Lehmann ihren neuen Roman „Totensteige“ vorgestellt.

Stuttgart - Irgendwann knackt und poltert es auch in den Häusern aufgeklärter Zeitgenossen. Dielen ächzen, Schrankholz quietscht. Mit Spuk hat das alles nichts zu tun. Das Übersinnliche ist eine Ausrede für Leute, die zu faul sind, rationale Erklärungen für die Dinge zu finden. Oder nicht?

 

Bei den Stuttgarter Kriminächten trat eine Geistersucherin in Aktion, der man das Schnüffeln in paranormalen Gefilden nie und nimmer zugetraut hätte: Lisa Nerz, die konfliktfreudige Serienheldin der Stuttgarter Autorin Christine Lehmann. Nerz, mittlerweile bundesweit von Kritikern und Lesern als eine der interessantesten Figuren im deutschen Krimi anerkannt, ist eine buchstäblich zupackende Heldin. Mit Judowürfen und Verbalattacken rückt sie einer Welt zu Leibe, in der etwas Unerklärliches immer darauf hinweist, dass hier jemand zum eigenen Vorteil und vermutlich zum Nachteil anderer die Sicht auf die Wahrheit verstellt hat.

In der von Lehmann bei einer Lesung vorgestellten „Totensteige“ tritt Nerz Hobbygeisterjägern einerseits, professionellen Parapsychologen andererseits mit jener Skepsis gegenüber, die wir von ihr erwarten. Für sie ist nicht die Frage, ob es das Übersinnliche gibt, sondern ob da Verwirrte offen Auskunft über ihr falsches Weltbild geben oder ob da Trickbetrüger schwindeln und manipulieren.

Aber diese Phase dauert nicht lange. Die Autorin hebelt die Gewissheiten von Nerz aus und damit auch deren Selbstsicherheit – oder deren Chuzpe, Selbstsicherheit in allen Situationen vorzutäuschen. Darin spiegelt sich ein Erkenntnisprozess der Verfasserin bei der Recherche zum Buch. Nicht alles, womit sich Esoteriker und Parapsychologen befassen, lässt sich als Humbug abtun oder als Luftfeuchtigkeitsphänomen erklären.

Lisa Nerz muss nun versuchen, das Unheimliche so aufzudröseln, dass am Ende etwas anderes als Hexenwerk und Mutantenkräfte übrig bleiben. Bliebe dies die einzige Herausforderung für die Schwabenreporterin und Gelegenheitsdetektivin, wäre „Totensteige“ vielleicht doch noch ein normaler Nerz-Krimi.

Aber Lehmann lässt ihre sonst so robuste Figur zeitweise bis zur Jämmerlichkeit zusammenschnurren. Ratlos, sprachlos, multipel angeknackst verliert Nerz sogar ihren Freund Richard Weber an eine andere Frau – wo doch sonst die bisexuelle Reporterin abseits der Beziehung zu Richard erfolgreich Frauen anmacht. Langjährigen Fans dieser Krimireihe mag das wie Fopperei vorkommen – wie das Umfallenlassen einer Figur, der man den Triumph des Emporschnellens schenken möchte. Aber die Demontage der Lisa Nerz ist eine gründlichere. Von „Totensteige“ aus betrachtet, entlarvt sich viel von ihrem Verhalten in früheren Büchern als Bluff, wenn auch als damals noch erfolgreicher.

So tief ist der Fall der Lisa Nerz, dass Lehmann zu extremen Mitteln greift, um die Figur wieder auf die Ebene der Handlungsfähigkeit zu holen, zu Begegnungen mit Staatsoberhäuptern gar. In einem ihrer früheren Abenteuer ist Nerz schon einmal auf den Mond geflogen, in „Totensteige“ nun erleben wir die soziale Variante dieses spektakulären Ausbruchs aus dem Stuttgarter Kessel. Es wird schwer sein für Nerz, dorthin einfach zurückzukehren. Manches in „Totensteige“ liest sich wie die Probe, ob sich vielleicht die ganze, sowieso in steter Bewegung befindliche Nerz-Welt gründlich entkernen, ob sich die gewachsene Struktur zerschlagen, ob sich die Heldin auf einen radikalen Neuanfang zurückwerfen ließe. Vielleicht wird uns, spiritistisch gesprochen, „Totensteige“ einmal als die Glaskugel erscheinen, in der sich das Kommende ahnen ließ.

Christine Lehmann: Totensteige. Argument Verlag, 537 Seiten, 12,90 Euro.