Die Regierungsfraktionen sind von dem Beschluss des Kabinetts zur Verfassungsklage überrascht worden. Das nehmen sie Justizminister Rainer Stickelberger übel.

Stuttgart - Rainer Stickelberger ist ein über die Parteigrenzen geachteter Mann, dem im Landtag viel Sympathie entgegengebracht wird. In der SPD-Fraktion genießt der Justizminister Ansehen und Autorität. Doch nun hat Stickelberger die Geduld seiner Abgeordnetenkollegen bereits zum zweiten Mal strapaziert.

 

Der jüngste Anlass ist die vom Kabinett beschlossene Aufwertung des Staatsgerichtshofs, welcher zu einem vollumfänglichen Verfassungsgericht ausgebaut werden soll. Die Baden-Württemberger, so verkündeten Stickelberger und Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Dienstag, können sich, eigene Betroffenheit vorausgesetzt, künftig mit Verfassungsbeschwerden an das Gericht wenden. Bis jetzt ist das nicht möglich, jedenfalls so im Gesetz über den Staatsgerichtshof festgeschrieben.

Das Dumme ist nur: die eigene Fraktion wurde von dem Vorhaben überrascht. Nicht dass die neue Verfassungsbeschwerde bei SPD oder Grünen auf Widerstand stoßen würde. Nicht das Thema erregt die Gemüter, wohl aber die Vorgehensweise. Stickelberger habe sich zum Lakai des Staatsministeriums machen und in eine Geheimaktion einspannen lassen, lautet der härteste Vorwurf aus der SPD. Denn der Staatsgerichtshof ressortiert zwar beim Staatsministerium, doch der Gesetzentwurf wurde im einschlägig kompetenten Justizministerium erarbeitet.

Thema kam schnell abstimmungsreif auf die Tagesordnung

Um die Kritik zu verstehen, muss man wissen, dass gerade das Staatsministerium großen Wert auf eine intensive Abstimmung mit den Regierungsfraktionen legt. Bei jeder Kleinigkeit, so heißt es in der SPD, lege die Regierungszentrale großen Wert darauf, dass Vorlagen zumindest mit den zuständigen Arbeitskreisen der Regierungsfraktionen abgestimmt würden. Andernfalls kämen sie keinesfalls auf die Tagesordnung des Kabinetts. Doch bei dem Projekt Verfassungsbeschwerde verhielt sich das anders – auf Wunsch des Ministerpräsidenten, der einen Überraschungscoup landen wollte – und den Fraktionen ein verspätetes Osterei ins Nest legte.

Nur die beiden Fraktionschefs Claus Schmiedel (SPD) und Edith Sitzmann (Grüne) waren vor einiger Zeit vom Regierungschef bei einem gemeinsamen Mittagessen eingeweiht worden. Dass das Thema so schnell abstimmungsreif auf die Tagesordnung kam, überraschte SPD-Fraktionschef Schmiedel aber dann doch. Für ihn ist es „nicht nachvollziehbar“, dass daraus „eine geheime Kommandosache“ gemacht wurde. „Wir betrachten dies als einmaligen Vorgang“, knurrt er. Gänzlich ahnungslos blieb Andreas Stoch, der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, dessen Halsschlagader denn auch folgerichtig kurzzeitig anschwoll. „Von so einer Art der Nichtkommunikation halte ich nichts“, hadert Stoch. Vorsorglich lässt er das Staatsministerium für künftige Fälle wissen: „Das Kabinett kann beschließen, was es will, ohne die Zustimmung des Parlaments geht gar nichts.“ Auch Stochs Grünen-Kollege Hans-Ulrich Sckerl macht aus seiner Überraschung keinen Hehl, ist aber bestrebt, Unbill von „seinem“ Ministerpräsidenten abzuwehren. Die Verfassungsbeschwerde sei eine alte Forderung der Grünen, weshalb man sich nicht in den Weg stelle. Bei den Koalitionsverhandlungen indes war das Klagerecht kein Thema.

Justizminister Stickelberger, den Ärger erahnend, leistete bei der jüngsten Fraktionssitzung Abbitte. Es werde nicht mehr vorkommen, dass er die Fraktion vor vollendete Tatsachen stelle. Der StZ sagte Stickelberger: „Das war ein Bruch, das machen wir so nicht mehr.“ In der eigenen Fraktion wird Stickelberger mitunter eine zu große Nähe zu den Grünen nachgesagt. Das hängt mit dem Aalener Grünen-Parteitag im vergangenen Herbst zusammen, wo er sagte, die Zusammenarbeit mit den Grünen gestalte sich bisweilen besser als mit der eigenen Partei. Auch den Schulterschluss mit Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) bei der Ablehnung von Stuttgart 21 nahm dem Justizminister mancher Genosse übel.

Eberhard Stilz, der Präsident des Staatsgerichtshofs, äußerte sich indes erfreut über die Aufwertung seines Gerichts. Anfangs habe er die Individualklage sehr skeptisch gesehen, dann aber umgedacht. Er erkennt in der Verfassungsbeschwerde einen Ausweis der Eigenstaatlichkeit des Landes, und manchem Bürger könne in Stuttgart schneller geholfen werden als in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht.