Im Zweifel den Arzt wechseln: Das empfiehlt Landesärztepräsident Ulrich Clever Patienten, denen in der Arztpraxis Igel-Leistungen aufgedrängt werden. Die Leistungen grundsätzlich zu verteufeln, sei aber auch nicht richtig.

Stuttgart - Baden-Württembergs Ärztepräsident Ulrich Clever findet im Interview klare Worte zum Umgang mancher Mediziner mit Selbstzahlerleistungen. Zugleich fordert er die Krankenkassen auf, Igel-Leistungen nicht grundsätzlich abzulehnen.

 
Herr Clever, Umfragen zufolge fühlt sich inzwischen jeder fünfte Patient beim Arzt bedrängt, weil ihm Selbstzahlerleistungen angeboten werden, sogenannte Individuelle Gesundheitsleistungen (Igel). Beim Augenarzt ist es sogar jeder dritte Patient. Das kann Ihnen als Landesärztepräsident nicht recht sein. Wie bewerten Sie das?
Es kann nicht sein, dass ein Arzt kranke Menschen bedrängt, sich für eine Selbstzahlerleistung zu entscheiden. Das ist verwerflich. Wir wollen das als Ärzteschaft nicht. Ich kann im individuellen Fall nur dazu raten, den Arzt zu wechseln. Zugleich dürfen wir aber die Augen nicht vor den Realitäten im Verhältnis zwischen Arzt und Patient verschließen.
Was meinen Sie?
Manche Patienten wünschen Leistungen, die rational nicht immer zu begründen sind. Das ist wie beim Autokauf oder bei der Partei, für man sich bei der Bundestagswahl entscheidet. Manche Patienten wünschen zum Beispiel eine Akkupunktur, obwohl der Igel-Monitor der Krankenkassen davon abrät. Wenn der Patient diese Leistung unbedingt haben will, finde ich das wiederum gar nicht verwerflich.
Das ist ja auch nicht strittig. Problematisch wird es, wenn der Arzt seinem Patienten eine Leistung quasi aufzwingt. Nach dem Motto: Sie können da noch etwas für ihre Gesundheit tun, aber leider zahlt die Kasse das nicht. Warum tun Ärzte das?
Ich möchte das nicht nur mit dem schnöden Mammon abtun. Die Ärzte sehen sich Krankenkassen gegenüber, deren Vergütungen nicht immer angemessen sind. Sie stehen unter dem Druck, einerseits wie freie Unternehmer behandelt zu werden, andererseits aber keine freien Preise zu haben. Hinzu kommen die Anforderungen einer Kassenbürokratie, die immer weniger Luft zum Atmen lässt. Da bieten Igel-Angebote eine gewisse Möglichkeit zur Kompensation.
Laut dem Statistischen Bundesamt liegt der Reinertrag je Praxis bei durchschnittlich 160 000 Euro pro Jahr. Hat man da als Arzt Igel-Leistungen finanziell nötig?
Durchschnittlich heißt, dass manche Praxen weit über dieser Summe liegen, manche aber auch weit darunter. Es gibt zudem immer Situationen, in denen ein ärztliches Unternehmen etwa nach einer Scheidung ins Wanken gerät. Wirtschaftliche Not kann dazu führen, dass jemand verstärkt auf Igel-Leistungen setzt. Aber natürlich gibt es auch Ärzte, die den Hals nicht voll kriegen können. Grundsätzlich gebe ich zu bedenken: Wer Ärzte zu Unternehmern macht, so wie Krankenkassen ja auch zu Unternehmen geworden sind, der darf sich nicht darüber wundern, wenn das Geldverdienen eine zunehmende Rolle spielt.
Die Bundesärztekammer hat sich wiederholt gegen die Abzocke in den Praxen gestellt, Sie als Chef der Landesärztekammer haben ebenfalls bereits deutliche Worte gefunden. Reicht das noch aus? Die Beschwerden gehen ja nicht zurück, eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Müssen Sie nicht befürchten, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient dauerhaft geschädigt wird?
Die Situation ist schwierig für uns Ärzte. Die Kassen setzen uns mit ihrem sehr einseitigen Igel-Monitor unter Druck, weil sie selbst unter Druck geraten, da sie manche Leistungen nicht bezahlen dürfen. Die Kassen sollten anerkennen, dass es gute Gründe für Igel-Leistungen gibt. Das würde es Ärztevertretern, die ihre Kollegen zur Mäßigung mahnen, leichter machen. Es geht nicht, Patienten etwa beim Augenarzt schon bei der Anmeldung zu sagen, dass der Doktor sie nur sehen will, wenn vorher der selbst zu zahlende Augendrucktest gemacht wird.
Was passt Ihnen nicht am Igel-Monitor?
Das Angebot ist parteiisch. Es fällt doch auf, dass Patienten den Empfehlungen des Igel-Monitors meist nicht folgen. Der PSA-Test für Männer und der Brust-Ultraschall für Frauen werden massenhaft nachgefragt, obwohl der Igel-Monitor sie als zweifelhaft einstuft. Die Leute wollen Gewissheit. Ich selbst lege Wert darauf, dass der Urologe meinen PSA-Wert bestimmt. Wenn der im Januar in Ordnung war, bin ich das ganze Jahr über beruhigt. Dabei weiß ich als Arzt, dass durch diesen Test wahrscheinlich kein einziger tödlicher Prostata-Krebsfall verhindert wird.
Welche Möglichkeiten hat die Ärztekammer, gegen schwarze Schafe vorzugehen?
Das wird immer wieder leichthin gefordert. Aber so einfach ist das nicht. Man müsste nämlich Ross und Reiter nennen, um das justiziabel zu machen. Ich finde, Krankenkassen und Ärzte sollten beim Thema Igel aufeinander zugehen. Es grundsätzlich zu verteufeln, ist der falsche Weg.