Marc Sinans Komposition zum Genozid an den Armeniern macht Furore: Der türkische EU-Botschafter will „Aghet“ den Geldhahn zudrehen, die Dresdner Musiker wollen sich auf keinen Fall einschüchtern lassen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Spätestens seit der Weltmusiker und Komponist Jörg Widmann ein Auftragswerk für Marc Sinan übernommen hat, das den Titel „Entschwebung für Gitarre und Elektronik“ trug (das war 1998), ist der Musiker Sinan in der nicht nur historisch denkenden Musikwelt ein Begriff: Der Sohn einer türkisch-armenischen Mutter und eines deutschen Vaters, Jahrgang 1976 und als Gitarrist ausgebildet unter anderem am Salzburger Mozarteum, gilt nicht nur als vorzüglicher Musikant, sondern auch als außerordentlicher Kommunikator ohne Berührungsängste.

 

Mit dem Royal Philharmonic Orchestra vermochte er zum Beispiel genauso gut gelaunt „A Royal Christmas“ zu feiern, wie er unter dem Projektnamen „Sounds Are Friends“ mit Benefizkonzerten in Deutschland dafür sorgte, dass vor zehn Jahren in Gölcük bei Istanbul 70 Waisenkinder, die beim dortigen Erdbeben 1999 ihre Familien verloren hatten, Musikunterricht bekamen. Nicht nur durch Sinan, aber eben auch. Sinan ist ein großer Virtuose und musikalischer Völkerverständiger, um das Mindeste zu sagen.

„Aghet“ heißt Katastrophe

Der Türkei jedoch unter Führung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gilt er momentan als Brunnenvergifter, weil am Samstag in Hellerau bei Dresden mit den dortigen Sinfonikern eine weitere Aufführung aus der Werkstatt Sinans stattfinden wird (erstmals zu hören, vollkommen unbeanstandet im Übrigen, im November), die den Namen „Aghet“ trägt.

Aghet, armenisch für „Katastrophe“ im Sinne von „Shoa“, thematisiert den Genozid der so genannten Jungtürken an den Armeniern zwischen 1915 und 1916, der in der Türkei bis heute ein Tabuthema ist. Die furchtbaren Zahlen entzweien Historiker bis heute, armenische Schätzungen sprechen von 800 000 Opfern durch Massaker und Gewaltmärsche.

Papst Franziskus hatte das Verbrechen im letzen Jahr offen als Völkermord bezeichnet und handelte sich seitens Erdogans den lakonischen Vorwurf ein, „Unsinn“ zu reden. Zu dieser Zeit diskutierte auch der Deutsche Bundestag, seinerzeit Bündnispartner der Türken, über die Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg. In der Debatte im Berliner Reichstag zitiert wurde eine abschätzige Note des damaligen Reichkanzlers Bethmann Hollweg: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ So viel zur deutschen Beteiligung an der Geschichte.

Auch vor diesem Hintergrund zu sehen ist Marc Sinans neuestes Werk, das allerdings eine viel längere Vorgeschichte hat. Dazu gleich. „Aghet“ jedenfalls ist von der Türkei, wie bereits gemeldet, offiziell bei jener EU beanstandet worden, die das Zustandekommen des Abends in Hellerau (wie auch die anstehende Tournee nach Belgrad , Jerewan und Istanbul) mitfinanziert. Die Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur kam dem Wunsch, den entsprechenden Link zu löschen, zunächst nicht nach und schließlich doch, als sich auch noch der türkische Botschafter in Brüssel eingeschaltet hatte. Einige Parallelen zum Fall des Kabarettisten Jan Böhmermann liegen auf der Hand, wiewohl das Niveau wohl ein anderes ist.

Sachsen verlangt Klarheit von der EU

Allerdings haben die Dresdner Sinfoniker, deren Zusammenarbeit mit Sinan nicht erst seit gestern währt, schon ihre Erfahrungen gesammelt im Umgang mit türkischen Behörden. Bereits im Jahr 2014, als „Dede Korkut“, das zweite Projekt mit Sinan, lief (2011 hatte die Zusammenarbeit mit „Hasretim - eine anatolische Reise“ begonnen, eingespielt für die Münchner Plattenfirma ECM), waren die Behörden hellhörig geworden.

„Es reichte allein die Benennung des Genozids“, sagt der Intendant der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt. Das türkische Tourismusministerium und die aserbaidschanische Botschaft zogen ihre Unterstützung kurz vor der Premiere zurück. „Hasretim“ hatte die türkische Botschaft finanziell sowie verbal mit viel Lob begleitet. Auch der „Aghet – ein Völkermord“ genannte Film von Eric Friedler aus demselben Jahr führte lediglich zum Widerspruch der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

Politisch hielt sich Ankara damals zurück, obwohl die Behauptung, es habe einen Völkermord an den Armeniern gegeben, gegen den Paragraphen 301 des Strafgesetzbuches verstößt (Verunglimpfung) und mit einer Haftstrafe belegt werden kann. Dieter Jaenicke, der Intendant des Europäischen Zentrums der Künste in Hellerau, sagt zu den jüngsten Entwicklungen, dass ihn die Reaktion der türkischen Regierung zu „Aghet“ überhaupt nicht überrasche. Sie sei, vielmehr, konsequent: „Erst die Presse, dann die Satire, jetzt Kunst und Musik“. Die „Anmaßung“ sei komplett und bedürfe klarer Worte der Bundesregierung und der EU.

Im Festspielhaus Hellerau ist man nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen und hat entsprechenden Rückhalt auch bei der Stadt und der Landesregierung beziehungsweise der Kulturstiftung in Sachsen geholt. Beide sind an der Förderung beteiligt. Das Konzert am Samstag findet statt wie geplant. Unklar ist vorerst, wie die Pressesprecherin in Hellerau, Katja Solbrig, sagt, ob der Tourneetermin in der Türkei aufrecht erhalten werden kann.