Auf Pro Sieben startet eine neue Staffel von „Akte X“. In den Neunzigern setzte die Mystery-Serie neue Maßstäbe in der Fernsehunterhaltung. Aber passt die Neuauflage noch in unsere Zeit?

Stuttgart - Das Fernsehen ist voll von Monstern. Doch keines ist so furchterregend wie Tad O’Malley (Joel McHale), ein äußerlich seriöser TV-Moderator, der in der ersten Folge der Serien-Neuauflage von „Akte X“ sein Gift verspritzt. „Es sind die liberalen Mainstream-Medien, die Sie belügen! Sie werden belogen über Ihre Freiheit und Ihr gottgegebenes Recht, eine Waffe zu tragen! Der 11. September war ein Ablenkungsmanöver, ein Warm-Up für den Dritten Weltkrieg!“

 

Solche Parolen sind der Stoff, aus dem heute Alpträume gebastelt werden, und zwar nicht nur im Kino oder TV. Als „Akte X“, die Mystery-Serie der Neunziger, zum ersten Mal über die Bildschirme flimmerte, unterhielt sie das Publikum noch mit weitaus harmloseren Verschwörungstheorien, die man getrost als abseitig-lustigen Humbug verbuchen konnte. Doch seit dem Ende der Serie im Jahr 2002 hat sich nicht nur das Fernsehformat an sich weiterentwickelt; auch unsere Lebenswirklichkeit hat sich einschneidend verändert.

So haben etwa klare Feindbilder wie zu Zeiten des Kalten Krieges in der Gegenwart keine Gültigkeit mehr. Stattdessen greifen diffuse Ängste vor fremden Mächten heute längst nicht bloß im Denken verschrobener Zeitgenossen, sondern auch bei Bürgern, die mit beiden Beinen auf dem Boden belegbarer Tatsachen stehen. Da scheint es nur konsequent, dass der Serienerfinder Chris Carter seine X-Akten aus der Mottenkiste kramt, um sie unter den aktuellen Bedingungen vielleicht nicht neu, aber mit erweitertem Horizont zu schreiben.

Popkultur verquickt mit Politik

Als der Sender Pro Sieben am 5. September 1994 die X-Akten öffnete, verfolgten immerhin 3,52 Millionen deutsche Fernsehzuschauer das erste dienstliche Rendezvous von FBI-Agent Fox Mulder (David Duchovny) und seiner Partnerin Dana Scully (Gillian Anderson), des bald berühmtesten Serienpaars der neueren TV-Geschichte. Volle neun Staffeln lang ermittelten Mulder und Scully in den „unheimlichen Fällen des FBI“, so der Untertitel von „Akte X“.

Wer beim ersten Einschalten eine konventionell-spannende, halbwegs seriöse Darstellung polizeilicher Ermittlungsarbeit erwartet hatte, wurde umgehend eines Besseren belehrt. Nicht die üblichen Verdächtigen wurden gejagt, sondern Außerirdische, Ufos, genmanipulierte Monsterwesen, Supersoldaten und andere seltsame Kreaturen. Zwar liefen schon in den frühen Sechzigern fantastische Serienstoffe wie „Outer Limits“ oder „The Twilight Zone“ im Fernsehen. Doch die kinoähnliche Hochglanz-Ästhetik sowie die mal ernsthaft betriebene, mal selbstironische Verquickung von Popkultur, Politik und Alltagsmythologie waren in dieser Form faszinierendes TV-Neuland. „I want to believe“ – „Ich möchte glauben“ prangte gleichsam als Arbeitshypothese auf einem Poster über Mulders Schreibtisch. Über dem Schriftzug: die Abbildung einer fliegenden Untertasse, ominös und unscharf wie eine Geisterfotografie. Einem Typen wie ihm, mit ausgeprägtem Faible fürs Übernatürliche, gepaart mit grundsätzlichem Misstrauen gegenüber staatlichen Autoritäten, traute Scully nicht über den Weg.

Aberglaube als Bestandteil der amerikanischen Mentalität

Als Medizinerin stand Dana Scully für die rationale, skeptisch-wissenschaftliche Denkweise, während Mulder, studierter Psychologe, aufgrund einer verschwommenen, aber traumatischen Kindheitserinnerung bereit war, noch den absurdesten Aberglauben in sein Weltbild zu integrieren. Mulder ging es um tieferliegende Wahrheitsschichten, die er unter der angeblich von Regierungen, Geheimdiensten und anderen dubiosen Mächten kaschierten Oberfläche unserer Realität vermutete. Er lebte damit eine Haltung vor, die heute ein riskanter Bestandteil der politischen Mentalität Amerikas ist.

So verrückt es klingt: der Argwohn, von dem Mulder und später auch Scully beseelt sind, wurzelt in einigen Bevölkerungsschichten schon seit dem sogenannten „Roswell-Zwischenfall“ im Sommer 1947. Zivilisten fanden die Trümmer eines abgestürzten Ballonzuges mit Radarreflektoren, den das amerikanische Militär zu Aufklärungszwecken getestet hatte. Mangels Informationen erklärten die Finder das Fundstück jedoch zum Flugobjekt außerirdischen Ursprungs. Der Irrtum fand immer neue Fans und Gläubige.

Präsident von Aliens Gnaden

Dass die absurden Verschwörungstheorien um Roswell noch immer in den Köpfen der Amerikaner spuken, belegt unter anderem eine Meinungsumfrage des Instituts „Public Policy Polling“ von 2013, in der einundzwanzig Prozent der Befragten angaben, sie glaubten an die staatliche Vertuschung eines Ufo-Absturzes in Roswell. In der Late-Night-Show von Comedian Jimmy Kimmel scherzte im März 2015 sogar Präsident Barack Obama über populäre Verschwörungstheorien. „Stellen Sie sich vor“, setzt Kimmel breit grinsend an, „ich wäre gerade zum Präsidenten ernannt worden – meine Hand wäre praktisch noch heiß vom Schwur auf die Bibel – ich würde mich sofort dorthin aufmachen, wo auch immer die Akten über Area 51 und die Ufos gelagert werden, um herauszufinden, was wirklich passiert ist. Wie steht’s mit Ihnen?“ Obama beweist Humor und feixt zurück: „Sehen Sie, das ist der Grund, warum Sie niemals Präsident sein werden! Die Aliens würden es nicht zulassen. Sie können deren Geheimnisse nicht verraten. Die Aliens üben eine strenge Kontrolle über uns aus!“

Geschichten über Alien-Entführungen und „Monster of the Week“-Episoden, wie sie „Akte X“ erzählte, nehmen sich vor dem Hintergrund realer terroristischer Bedrohung und allgegenwärtiger Überwachung wie kindlich-naive Märchen aus. In den sozialen Netzwerken vermischen sich Fakten, aberwitzige Fiktionen und Gerüchte zu einem brisanten Informationsgemisch, das wiederum alte Ängste und Ressentiments befeuert.

Die Behauptung des Moderators Tad O’Malley innerhalb der Serienhandlung, der 11. September sei Teil einer Regierungsverschwörung und reiche bis zum Roswell-Vorfall zurück, ist für Einige in den USA tatsächlich Konsens. In einer Gegenwart, in der nicht wenige Amerikaner Präsident Obama für einen Kommunisten oder gar für den Antichristen halten, liegt die Wahrheit, nach der Mulder so verzweifelt suchte, offensichtlich noch immer irgendwo da draußen.