Sulz oder Nellingen? Die Entscheidung über die neue Daimler-Teststrecke steht bevor. In den Gemeinden regt sich Widerstand.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stuttgart - Gäbe es einen Flecken Niemandsland in Baden-Württemberg, maximal 60 Autominuten von Sindelfingen entfernt, menschenleer, günstig erwerbbar, unbelastet von Schadstoffen und direkt an einer Autobahn gelegen, der Stuttgarter Daimler-Konzern hätte längst freudig zugeschlagen. Aber Baden-Württemberg ist kein Traumland, auch nicht, wenn ein heimischer Industrieriese mit dem Argument neuer Arbeitsplätze auf den Plan tritt. Im Fall Daimler-Teststrecke stellt sich so deutlich wie schon lange nicht mehr die Frage, ob Industrieansiedlungen mit einem hohem Flächenverbrauch überhaupt noch realisierbar sind.

 

Beantwortet wird sie beispielsweise in der Albgemeinde Nellingen. Am kommenden Montag wird es wieder hoch hergehen im Dorf an der Autobahn 8, nahe der Abfahrt Merklingen. Der zwölfköpfige Gemeinderat will in öffentlicher Sitzung einen Grundsatzbeschluss fassen, ob mit dem Stuttgarter Unternehmen über den Bau der großen Asphaltschleife verhandelt wird oder nicht. Entschieden wird an diesem Abend nicht allein über die mögliche Verwandlung von 200 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in ein Industriegelände, sondern auch über den Bürgerfrieden. Der ist längst gestört. Nellingens Bürgermeister Franko Kopp lebt seit Monaten mit dem Vorwurf, "ich wär der verlängerte Arm von Daimler".

Allein 15 Vereine stehen im Register

Nellingen ist, strukturpolitisch gesehen, unberührte Zone, aber die Dorfgemeinschaft funktionierte gut bisher. Allein 15 Vereine stehen im Register, die freiwillige Feuerwehr, die Dorfjugend, die Landfrauen und die einflussreichen Bauernverbände nicht mitgezählt. Im örtlichen Heimatmuseum wird die Erinnerung an früher wachgehalten. Zartes Wachstum wurde vor allem mit der Ausweisung von Bauplätzen generiert, so entstand zuletzt das Neubaugebiet Kegelplatz.

Dann kam der Tag, als das Auge des Daimler-Konzerns, der seit Monaten nach einer Ansiedlungsfläche für sein Mammutvorhaben sucht, auf diesen Flecken Albhochfläche fiel. Pendelnde Forscher und Ingenieure, so die Vorgabe, sollen sich auf dem Arbeitsweg nicht durch Ortsdurchfahrten schlängeln müssen.

Längst hat sich eine Bürgerinitiative entwickelt

Bürgermeister Kopp gehörte zu jenen Rathauschefs im Land, die sich der Lockung einer plötzlich und unvermutet aufgetauchten Chance auf einen Entwicklungsschub nicht entziehen. Heute, nachdem es Bürgerversammlungen und Projektgruppen gegeben hat, ist Kopp mehr denn je der Überzeugung, "dass die Chancen die Nachteile überwiegen". Ob das die Mehrheit im Gemeinderat auch so sieht, vermag er nicht zu sagen, der Bürgermeister will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, er arbeite gegen die teilweise verunsicherte Bürgerschaft. Längst hat sich nämlich eine Bürgerinitiative gebildet, die auf ihrer Homepage unter anderem die meterhohen Sichtschutzwände der Audi-Teststrecke in Neustadt an der Donau zeigt.

Rose Kümmel, Sprecherin der Initiative, beklagt, die Gemeinde habe jahrelang "Leute hergelockt", nun solle vor deren Häuser diese Autoteststrecke gesetzt werden. Mit Sorge sieht sie, wie andere Mitbürger die Chancen von Bodenverkäufen betonen, wie hitzig auf den Gehwegen und im Bäckerladen debattiert wird. "Die Anfrage von Daimler allein hat unserem Dorf schon geschadet", sagt die Gegnerin.

Daimler ist schon einmal gescheitert

Dass es nicht leicht werden würde mit der Standortsuche, hat der Autokonzern von Anfang an geahnt. Schließlich war Daimler in den achtziger Jahren schon einmal mit dem Plan gescheitert, eine Teststrecke in Boxberg zu bauen. Der Bürgerprotest hatte sich als unüberwindlich erwiesen. Diesmal soll es keine Hinterzimmerpolitik geben, nicht einmal den Anschein eines abgekarteten Spiels, sondern offene Verfahren unter Einbeziehung aller Betroffenen. "Wir setzen auf einen Dialog", sagt ein Daimler-Sprecher.

Der Konzern braucht die Teststrecke. Er versucht, die Vorstellung aufheulender Benzinmotoren und quietschender Reifen, die Anwohner sechs Tage in der Woche quälen, mit aufwendigen Präsentationen zu zerstreuen. Die Teststrecke soll vor allem der Erprobung alternativer Antriebe dienen. Elektro-, Hybrid- und Brennstoffzellenautos sollen ihre Runden drehen. Auch Fahrsicherheitssysteme wollen die Stuttgarter auf ihrer neuen Strecke auf Praxistauglichkeit prüfen. Bis jetzt geschieht das unter anderem auf dem Werksgelände in Sindelfingen oder innerhalb des Forschungsgeländes in Ulm, unter beengten und eingeschränkten Verhältnissen.

300 Menschen sollen innerhalb des Komplexes arbeiten

Der Flächenverbrauch des Projekts ist enorm. 200 Hektar werden für einen dreispurigen Ovalrundkurs mit vier Kilometer Länge, eine zwei Kilometer lange Messgerade, einen Dauerlaufkurs und eine "Simulationsstadt" benötigt. Dazu kommen Funktionsgebäude: Büros, Werkstätten, Räume für Veranstaltungen und Schulungen. 300 Menschen sollen innerhalb des Komplexes ständig arbeiten.

Das ist auch der Köder, den Daimler in den vielen Gesprächen präsentiert. Der Konzern garantiert den Kommunen, mit denen verhandelt wird, dass ihr neues "Prüf- und Technologiezentrum Süd" als eigene Betriebseinheit eingetragen und geführt wird. Dieses Vorgehen verspricht zum einen Gewerbesteuerzuflüsse für das ortsansässige Rathaus. Der örtliche Handel und die Gastronomie wiederum sollen sich auf 300 überwiegend gut bezahlte Arbeitnehmer freuen dürfen, die in ihren Arbeitspausen in Geschäfte und Lokale in der Umgebung ausschwärmen.

Der Bürgermeister wirbt vorsichtig

19 landwirtschaftliche Betriebe sind auf der Gemarkung Nellingen noch ansässig, sagt Bürgermeister Franko Kopp. Schon seit Langem zwinge der Strukturwandel einen Hof nach dem anderen in die Knie. 200 Hektar, das seien aktuell zehn Prozent der Nellinger Ackerflächen. Mehr als vorsichtig werben kann der Bürgermeister nicht tun. Denn selbst wenn der Gemeinderat am Montag sein grundsätzliches Plazet für weitere Verhandlungen mit Daimler gäbe, hat er nichts zu verkaufen. Am Ende zählte, wie Daimler mit den fast 140 Nellinger Grundstücksbesitzern übereinkäme, die von dem Projekt betroffen sind. Man habe noch nirgendwo konkret verhandelt, sagt der Daimler-Sprecher. Erst Ende 2011 wolle man mit Besitzern über Bodenpreise zu sprechen beginnen.

Daimler will sich Ende des Jahres für einen Standort entscheiden, so war es oft zu lesen im Lauf dieses Jahres, und die Überschriften suggerierten, der Konzern bestimme ganz allein Ort und Zeitpunkt seines Handelns. Doch von 80 Kommunen, die anfangs in den Fokus genommen wurden, blieben zum Beginn dieses Jahres gerade mal drei übrig: neben Nellingen im Alb-Donau-Kreis noch Empfingen im Kreis Freudenstadt sowie das im Kreis Rottweil gelegene Sulz am Neckar.

Die stärkste Trumpfkarte hält jetzt Sulz am Neckar

Seit dem Sommer ist auch Empfingen raus aus dem Rennen, oder auch "nach hinten priorisiert", wie die Daimler-Zentrale es ausdrückt. Ein kommunalpolitisches Kuriosum hat dazu geführt. 11 von 15 Gemeinderäten, so stellte sich mitten im Entscheidungsprozess heraus, waren Landbesitzer eben jener Fläche, die der Autokonzern anzukaufen gedachte. Nach geltender Gemeindeordnung lag eine Befangenheit dieser Räte vor. Dumm nur: sie hatten zuvor alle Beratungen in der Sache mitgemacht. Die Rechtsunwirksamkeit aller vorherigen und zukünftigen Beschlüsse drohte.

Die vermeintlich stärkste Trumpfkarte hält jetzt die 12.500-Einwohner-Stadt Sulz am Neckar. Keine 60 Kilometer sind es von Sindelfingen aus dorthin, zu den Ortsteilen Holzhausen und Bergfelden; die Entwickler müssten nur die A81 schnurstracks nach Süden fahren. Die Kommunalpolitik ist schon weit in der Debatte über die Teststrecke, und mit Bürgermeister Gerd Hieber gibt es einen Fürsprecher, der begeistert für sie wirbt. Sulz, so sagt er, könne jetzt "einen größeren Sprung machen, was die Zahl der sozialversicherungspflichtigen höherwertigen Arbeitsplätze angeht".

Hieber verweist auf einen Grundsatzbeschluss des Rates

Der Sulzer Gemeinderat hat nach Ansicht Hiebers längst über die große Industrieansiedlung abgestimmt, wenn auch ohne jedes Detailwissen. Er verweist auf einen Grundsatzbeschluss des Rates aus dem Jahr 2004, mit dem eine Sonderfläche "50 Hektar plus x" direkt an der A81 ausgewiesen wurde. Zu den Hintergründen der Entscheidung gehörte damals das Erschrecken der baden-württembergischen Landesregierung darüber, dass Daimler in den neunziger Jahren keine Fläche für die Produktion des Kleinwagens Smart gefunden hatte. Schließlich kam Hambach in Lothringen zum Zug. Derartiges, so war die einhellige Meinung der Regierung von Ministerpräsident Erwin Teufel, dürfe sich nicht noch einmal wiederholen. Reserveflächen mussten her.

Bürgermeister Hieber nutzt jede Gelegenheit, um zu betonen, dass seine Stadt "nah am Wirtschaftsraum Mittlerer Neckar" liegt - und er weiß sich der Unterstützung des Regionalverbandes Schwarzwald-Baar-Heuberg sicher, in dessen nördlichstem Zipfel Sulz liegt. "Die Region hat Strukturdefizite", sagt Hieber, seine Stadt soll ganz vorne dabei sein, wenn die Wende eingeleitet wird.

Auch in Sulz gibt es eine Bürgerinitiative

Doch es gibt zwei Parallelen zu Nellingen: Zum einen ist die Sulzer Stadtpolitik darauf angewiesen, dass Privatbesitzer die noch fehlenden 150 Hektar Land an Daimler verkaufen. Zum anderen hat sich auch hier eine Bürgerinitiative gegen das Projekt am Thema Teststrecke festgebissen. Und in dieser Bewegung sitzt ausgerechnet einer von zwei Landwirten, ohne deren Einsicht nicht viel gehen wird: Ernst Schmid.

Schmid ist Schweinezüchter, 1400 Tiere stehen in seinen Ställen. Auf seinen Äckern wachsen die Futtermittel, die verhindern, dass er allzu viel Tiernahrung zukaufen muss. "Ich brauch die Fläche auch zur Gülleausbringung", betont der Landwirt. An Daimler verkaufen? Niemals, sagt Schmid. Die Stadt Sulz sei mit ihren Expansionsträumen schon nahe genug an seinen Hof herangerückt. "Jetzt habe ich hier einen schönen Stahlhandel vor dem Haus", beklagt er. "Auf den guten Böden ist gut bauen." Aber nun müsse Schluss sein.

Es geht nicht um Geld sondern um Nahhaltigkeit

Mit seinem Bürgermeister hat er sich überworfen. "Ich habe Hieber ins Gesicht gesagt: ,Ich habe den Glauben an Sie verloren"', so erzählt der Schweinezüchter. Ihm, so versichert er, gehe es bei seinem Widerstand nicht ums Geld, sondern die Nachhaltigkeit. "Ich hab vier Kinder, und es ist meine Pflicht, dass ich den Kindern etwas biete", beharrt der Bauer auf seinem Standpunkt.

Ob sich der Widerstand in Sulz nicht am Ende doch auflöst, wenn nur der Preis stimmt, darauf kann sich Daimler derzeit nicht verlassen, auch wenn in der Stadt bereits Informationen die Runde machen, wonach Verhandlungen mit Grundstückseigentümern längst im Gang sind. Der Fahrzeugbauer aus Stuttgart, so fordern die Bürgerinitiativen von Sulz und Nellingen unisono, solle seine Teststrecke gefälligst auf einer Konversionsfläche bauen.

Bis zum Jahr 2017 sollte die neue Teststrecke in Betrieb gehen

Das, kommentiert der Daimler-Sprecher, hätte man ja gern getan. "Im bisherigen Prozess wurden immer vorrangig Konversionsflächen gesucht." Doch kein ehemaliger Militärflugplatz und kein verlassenes Kasernengelände habe die Kriterien erfüllt. Auch nicht der ehemalige Truppenübungsplatz Münsingen. "Münsingen als Biosphärenreservat scheidet aus", heißt es.

Bis zum Jahr 2017, so der Wunsch, sollte die neue Teststrecke in Betrieb gehen. Die Realität ist derzeit, dass einige wenige widerspenstige Landwirte genug sein könnten, um den Autokonzern einmal mehr in seinen Expansionsplänen vor der eigenen Haustür zu stoppen. Vage deutet die Konzernzentrale die Existenz eines Planes B an, falls es weder mit Nellingen noch mit Sulz etwas werden sollte: "Es gibt noch weitere Standorte, die von uns beobachtet werden. Aber die Gemeinden entscheiden selbst, wann etwas öffentlich wird."

Alte Erfahrungen und neue Methoden der Bürgerbeteiligung

Verfahren: Bisher suchte der Daimler-Konzern stets das Gespräch mit Bürgermeistern und Gemeinderäten. Wo Zustimmung herrschte, kam es zu Bürgerversammlungen. Zugleich wurden Bodensondierungen gemacht. In Sulz und Nellingen wurden außerdem landwirtschaftliche Agrarstrukturgutachten in Auftrag gegeben. Ziel ist, Ausweich- und Alternativflächen für betroffene Besitzer und Pächter zu finden. Auch ein Lärmschutzkonzept finanziert der Autobauer dort, wo ihm Sympathie entgegenschlägt.

Hoffnungen: Bislang verfügt Daimler über keinen zentralen modernen Erprobungsstandort für alternative Antriebe. Durch die geplante Teststrecke erhofft sich der Konzern eine enge Verzahnung zwischen den Stuttgarter und Sindelfinger Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Dadurch sollen sich die Entwicklungszyklen zukünftiger neuer Automodelle beschleunigen.

Erfahrungen: 1987 gab Daimler seine zehnjährigen Versuche auf, in Boxberg im Main-Tauber-Kreis eine Teststrecke zu bauen. Die Bundschuh-Bauern aus dem fränkischen Baden hatten ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstritten, das die ins Auge gefasste Enteignung von Landwirten zum Bau des 614 Hektar umfassenden Testgeländes verbot. Die Freude der Gegner währte nicht allzu lange. Die Landesregierung machte sich an die Arbeit zum Entwurf eines „Boxberg-Gesetzes“. Zehn Jahre später schaffte Bosch, was Daimler verwehrt geblieben war. Der Zulieferer nahm auf einer Fläche von 94 Hektar einen 100 Millionen Mark teuren, drei Kilometer langen Rundkurs in Boxberg in Betrieb.

Smart-Story: Ernüchtert mussten baden-württembergische Wirtschaftspolitiker im Jahr 1997 zur Kenntnis nehmen, dass Daimler sein neu entwickeltes zweisitziges Stadtauto Smart im lothringischen Hambach zu produzieren begann. Für 450 Millionen Euro wurde eine neue Fabrik gebaut, in der 2000 Menschen zu arbeiten begannen. Die Schwarzwaldstadt Lahr hatte den Standortwettbewerb verloren.

Hambach: Die Gründe für die Entscheidung zu Gunsten von Hambach waren vielfältig. Unter anderem standen aus dem EU-Fonds für strukturschwache Regionen sowie von der französischen Regierung hohe Fördermittel für die Ansiedlung in Lothringen zur Verfügung. Das Arbeitskräfteangebot war in der ehemaligen Schwerindustrieregion hoch, das Lohnniveau niedrig. Hambach hatte gegenüber Lahr noch einen Vorteil: Die Stadt liegt nahe an einer Autobahn. In Baden-Württemberg wurde daraufhin nach Industriereserveflächen in Autobahnnähe gesucht.